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Nationalsozialismus Über die Hälfte in der Opferrolle

Claudia Klupsch von "Herz statt Hetze" führte in Stendal ein Interview mit dem Direktor des Anne-Frank-Zentrums, Patrick Siegele.

Von Thomas Pusch 16.04.2018, 01:01

Stendal l Über die Hälfte der Befragten einer Studie gab an, dass die Familie in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer gewesen sei. 20 Prozent gaben an, ihre Familie habe Menschen in Not geholfen. Es waren erstaunliche Zahlen, die der Direktor des Anne-Frank-Zentrums, Patrick Siegele, am Freitagabend im Kleinen Haus des Theaters der Atmark präsentierte. Claudia Klupsch von „Herz statt Hetze“ führte mit ihm ein Interview zum Abschluss des Tages des Antisemitismus, den die Initiative veranstaltet hatte. Laut der Helferforschung mögen es in der Tat bis zu 200.000 Deutsche gewesen sein, die sich für Juden und andere Verfolgte eingesetzt haben. Das sind aber nur 0,5 Prozent, weit weg von einem Fünftel. Ob sich denn die Einstellung zur Vergangenheit bei der Jugend geändert hätte, ob Betroffenheit der Gleichgültigkeit gewichen sei, wollte Klupsch wissen. Siegele bestätigte durchaus eine Veränderung der Entwicklungskultur. Allerdings meint er, dass Schuldgefühl dem Verantwortungsbewusstsein gewichen ist. „Das ist auch gar nicht so verkehrt“, sagte er, „und zeigt, dass der von der AfD beschworene Schuldkult überhaupt nicht existiert“.

Dass der Antisemitismus nicht von einer verschwindend geringen Mehrheit gelebt wird, ist eine weitere Erkenntnis des Berliner Zentrums. 10 bis 15 Prozent der Deutschen hätten antisemitische Gedanken, der an Israel ausgelebte Antisemitismus erreiche sogar höhere Werte, nahezu die Hälfte.

Klupsch spannte mit einer Frage den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart, wollte wissen, was Anne Frank, die eine ganz tolle Beobachterin ihrer Zeit war, heute wohl denken würde.

Siegele meinte, dass sie wohl auch in der heutigen Zeit noch über manches sehr traurig wäre. Anne Frank habe den Antisemitismus besser definiert als so mancher Wissenschaftler. Er zitierte dazu aus ihrem Tagebuch: „Wann können wir endlich wieder Menschen sein und nicht nur Juden?“ Sie würde sich über viele Entwicklungen auch freuen. Vor allem darüber, dass der Rechtsstaat die Hand schützend über die Bürger hält. Dessen unbenommen könne das Engagement von Initiativen wie „Herz statt Hetze“ gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Zuvor war das Publikum im vollbesetzten Kleinen Haus eineinhalb Stunden in die düstere Vergangenheit Deutschland geschickt worden. „Annes Kampf“ unternimmt den Versuch, einen Dialog zwischen Anne Frank und Adolf Hitler auf der Basis ihres Tagebuchs und seines „Mein Kampf“ zu erzeugen. In mühsamer Kleinarbeit wurden beide Werke nach Textstellen durchforstet die miteinander korrespondieren könnten. Tatsächlich gelang dies auch.

Etwa wenn Hitler eine Hasstirade über die unhygienischen Juden verfasst hat und Anne über die Waschtage im Versteck schreibt, wo sich jeder einen anderen Platz für den Waschzuber ausgesucht hat, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Oder wenn sie über die vielen Fächer schreibt mit denen sie sich im Verborgenen beschäftigt, sie sich eigentlich nur über eine „Mistrechenaufgabe“ ärgert und er darstellt, dass es die Aufgabe der Frau sei, Kinder zu bekommen und nicht, gebildet zu sein.

So unterschiedlich wie ihre Geisteshaltung werden die beiden auch auf der Bühne präsentiert. Anne sitzt am Schreibtisch, Hitler steht am Pult. Das junge Mädchen spricht mit sanfter Stimme, der Kopf der „brutalsten Henker, die jemals gelebt haben“, wie es im Tage buch heißt, hat den aus historischen Dokumenten bekannten Tonfall.

Es gibt Stellen, die sehr beklommen machen. Wenn Anne Frank sich so sehr über etwas Gelesenes freut, dass sie es auch später ihren Kindern zu lesen geben will. Oder wenn sie vermutet, dass sich später wohl niemand für ihr Tagebuch interessieren werde: „Das wäre doch seltsam, wenn zehn Jahre nach dem Krieg erzählt wird, wie die Juden gelebt haben“.

Beide Akteure ziehen das Publikum in ihren Bann, die Eine in einen mitfühlenden, der Andere in einen verachtenden. Ganz große Momente sind es auch, wenn sie sich vom Schreibtisch erhebt und singt. Da gibt es jiddische Lieder, bei denen sie mit ihrer Stimme den ganzen Saal füllt, da gibt es Durchhaltestücke wie „Davon geht die Welt nicht unter“ oder „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“, die sie im Playback so gekonnt vorträgt, dass man glaubt, Zarah Leander vor sich zu haben.

Die Geschichte wird nicht in der Dialogform erzählt. Die endet einen Tag nach dem Attentat auf Hitler. Das Schicksal der Anne Frank und Hitlers Weg zur Judenausrottung werden von den Protagonisten danach geschildert. Nachdem das letzte Wort verklungen ist, herrscht für einen Moment Ruhe im Kleinen Haus. Das Publikum muss erst einen Moment durchatmen. Dann gibt es den verdienten Applaus.