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Organspende Leben retten kann so einfach sein

Auch in Stendal warten Menschen auf ein Spendeorgan.

Von Theresa Hagen 29.03.2018, 09:39

Stendal l 373 Menschen warten in Sachsen-Anhalt auf ein Organ. Sie sind angewiesen auf eine Transplantation. Dialyse und andere medizinische Maßnahmen dienen noch zur Überbrückung – bis der Tag gekommen ist, an dem klar wird: Es gibt ein Organ.

Die 27-jährige Cyntia Leute kennt dieses Gefühl: „Bis zum Tag der Operation habe ich nicht geglaubt, dass es wirklich passiert.“ Die Freiburgerin ist vor acht Jahren an der seltenen Autoimmunkrankheit Membranoproliferative Glomerulonephritis (kurz: MPGN) erkrankt. Dabei wird durch die Ablagerung eines Enzyms die Nierenfunktion soweit beeinträchtigt, dass sich die Nierenfilter mit der Zeit selbst zerstören. Die Folgen sind ein hoher Blutdruck und Antriebslosigkeit. Ein normaler Alltag? Unmöglich. Ihre Prognose lautete: zehn bis zwölf Jahre Dialyse, dann braucht sie eine Transplantation. Auf Grund ihres jungen Alters und der seltenen Blutgruppe 0 negativ verschlechterten sich die Chancen, schnell an ein Spenderorgan zu kommen immens. Doch sie gab nicht auf, schloss sich täglich selbst an die Bauchfelldialyse an. Morgens, mittags, abends – je 30 Minuten. „Man kann nie abschalten. Die Krankheit stellt sich in den Mittelpunkt des eigenen Lebens“, beschreibt Cyntia ihre Zeit mit MPGN.

Einige Jahre später dann endlich Hoffnung: Ihr Freund Callum Knowles könnte ihr eine seiner Nieren spenden. Es folgen unzählige medizinische Tests, ein psychologisches Gutachten und ein Termin bei der Ethikkommission. Unabhängige Psychologen, Chirurgen und Anwälte beraten das junge Paar bezüglich der geplanten Organspende. Und es klappte tatsächlich. Vor zwei Wochen spendete Callum eine seiner Nieren an Freundin Cyntia. Für ihre Beziehung eine Zerreißprobe: „Die letzten zwei Wochen vor der Transplantation wurde ich stationär aufgenommen. Ich musste dreimal die Woche für vier Stunden an die Dialyse. Es war wirklich keine einfache Zeit. Zeitweise hatte ich schon die Hoffnung aufgegeben.“ Doch auch diesen Nervenkrieg überstehen die beiden. „Wir sind definitiv an der Transplantation gewachsen“, sagt sie rückblickend. Die Freiburgerin hat ihre neue Niere nicht abgestoßen. Die ständige Konfrontation mit der Krankheit und die permanenten Gedanken an die Blutwäsche sind endlich passé.

Cyntia Leute hatte das Glück, nicht auf Fremdspende angewiesen zu sein. Denn immer weniger Menschen spenden Organe. 2017 wurde sogar ein historischer Tiefstand der Transplantationen erreicht. Nur 797 Organe konnten transplantiert werden, im Vergleich: 2010 waren es noch 1296. Dr. Jens Rau, Chefarzt der Intensivmedizin und Anästhesie des Johanniter-Krankenhauses in Stendal, weiß, woran das liegen könnte: „Klar ist, dass sich die Sicherheit im Straßenverkehr stetig bessert, was für weniger Kopf- und Schädelverletzungen sorgt. Weniger Hirntote durch Unfälle bedeuten automatisch weniger Transplantationen.“ Sachsen-Anhalts Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD) hat eine andere Antwort auf die schwindenden Zahlen: „Der Organspende-Skandal hallt noch immer nach.“

In den Jahren 2010 bis 2012 sollen Ärzte und Transplantationsbeauftragte in Hamburg, Göttingen, Münster, München, Leipzig und Regensburg Daten verfälscht haben, um eine schnellere Transplantation zu ermöglichen. Wartelisten wurden hierbei absichtlich manipuliert, eigene Patienten bevorzugt. In einigen Fällen ermitteln die zuständigen Staatsanwaltschaften noch immer. Dieser Skandal sorgte in der Bevölkerung für Misstrauen gegenüber der Organspende. Dr. Jens Rau betont jedoch: „Vor drei Jahren gab es eine Richtlinienneuerung in der Hirntod-Diagnostik. Es muss immer ein unabhängiger Neurologe/Neurochirurg anwesend sein, der den irreversiblen Hirnfunktionsausfall feststellt.“

Annemarie Kumpe, eine Betroffene aus dem Landkreis Stendal, setzt sich seit Jahren für das Thema ein. Ihr wurde bereits in den 80er Jahren eine Niere transplantiert. Zur damaligen Zeit ein riskanter Eingriff. „Durch diese Fremdspende wurde mir ein zweites Leben geschenkt“, sagt sie heute dankbar. Und trotzdem ist sie der Meinung: „Über die Definition „Hirntod“ herrscht noch viel Unwissenheit. Viele denken, dass ein Hirntoter möglicherweise wieder aufwachen könnte und noch eine Überlebenschance bestünde, doch das ist nicht wahr.“

Eine Lösung für das bestehende Missverhältnis an Organspendern könnte die sogenannte Widerspruchslösung sein. Jeder wird automatisch, ab dem 18. Lebensjahr, als Organspender registriert. Außer eben: man widerspricht, wofür man sich in einem Register eintragen lassen muss.

In 18 europäischen Länder gilt dieses System bereits, darunter Großbritannien, Frankreich und Portugal. Im Februar 2018 hatten auch die Niederländer dafür gestimmt. Schon in dieser kurzen Zeit ließ sich ein Anstieg bei den Transplantationen feststellen. Dr. Alexander Krainz, ärztlicher Leiter des Nierenzentrums Stendal-Gardelegen, wünscht sich so eine Regelung auch in Deutschland: „Ich halte es für die richtige Entscheidung.“ Die Sozialministerin stimmt dem Nephrologen zu: „Die Widerspruchslösung ist ein Kompromiss zwischen der grundsätzlichen Verpflichtung zur Organspende und der Berücksichtigung von individuellen Vorbehalten.“

Auch wenn sich die Experten einig sind, befinden sich die Zahlen im Sinkflug. Dr. Krainz meint, dass das Vertrauen in die gerechte Verteilung von Organen wiederhergestellt werden müsse. Dafür bedarf es auf der einen Seite strengerer Kontrollen der Transplantationszentren. „Auf der anderen Seite sollte sich jeder fragen: Möchte ich, wenn es notwendig ist, ein Spenderorgan haben? Bin ich mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch bereit, meine Organe zu spenden?“, appelliert der Arzt.