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Risikogruppe Lebenshilfe durch Corona schwer getroffen

Die Tangerhütter Lebenshilfe gehört zu den größten Arbeitgebern der Region. Warum die behinderten Mitarbeiter zu Hause bleiben müssen.

Von Rudi-Michael Wienecke 25.04.2020, 13:00

Tangerhütte l Dörthe Wallbaum und Martin Schreiber halten Abstand. Türen werden mit dem Ellenbogen geöffnet, zum Gespräch im Beratungsraum nehmen sie, weit voneinander entfernt, an unterschiedlichen Tischen Platz. Die Maßnahmen, um das Infektionsrisiko einzudämmen, werden in der Tangerhütter Lebenshilfe sehr ernst genommen. „Der Schutz der Gesundheit unserer behinderten Mitarbeiter steht an erster Stelle“, stellt Geschäftsführer Schreiber klar.

Diese rund 350 Beschäftigten, viele vor- oder mehrfach erkrankt, würden ausnahmslos zur Risikogruppe gehören, seit dem 18. März gilt für die Einrichtung deshalb das Betretungsverbot, erst einmal bis zum 3. Mai. Wie es anschließend weitergeht, müssten Bund und Land am 30. April entscheiden.

Bezüglich einer schnellen Lockerung der Einschränkungen ist Schreiber persönlich sehr skeptisch. Vielen dieser Menschen mit Handicap sei es schwer zu vermitteln, beispielsweise Abstandsregelungen einzuhalten. „Wir können sie nicht in dieser Menge zusammenkommen lassen“, so seine Meinung. Dörthe Wallbaum, Leiterin des Begleitenden Dienstes, bringt noch ein weiteres Sicherheitsrisiko ins Spiel: „Viele unserer behinderten Mitarbeiter reisen von zu Hause zur Arbeit an. Sie könnten sich auf dem Arbeitsweg anstecken“ und das Virus in die Werkstätten tragen. Bisher blieb die Lebenshilfe von Corona verschont.

Die Vorsicht fordert ihren Tribut. Die Holz-, Keramik- und Metallwerkstätten sind geschlossen. Gleiches gilt für die Floristik und die Wäscherei. Die Tiere auf dem Hofgut in Uchtspringe müssen dagegen versorgt werden, diese Arbeiten gelten, wie auch die in der Küche, als systemrelevant. Ausgeführt dürfen sie allerdings nur vom Betreuungspersonal werden. „Alle unsere Gruppenleiter sind im Dienst“, so Schreiber. Viele seien aus den Werkstätten in die Wohnbereiche versetzt worden.

Nichtbehinderte Mitarbeiter sorgen auch dafür, dass in der Textilwerkstatt vier Nähmaschinen surren. Hier entstehen Schutzmasken. Zuerst wurde die eigene Mannschaft damit versorgt, „aktuell fertigen wir 1500 für die Stadtwerke Magdeburg an“, so der Geschäftsführer. Bezüglich dieses Segmentes sei die Nachfrage aktuell logischerweise sehr groß. In Reihenfolge würden die Aufträge abgearbeitet. Allerdings sei auch das zunehmend schwieriger. „Stoffe und Gummi werden knapp auf dem Markt.“

Die Geschäftspartner der Tangerhütter Lebenshilfe hätten anfänglich für die Einstellung der Produktion weitgehend Verständnis gezeigt. Je länger die Einschränkung dauert, „desto mehr scharren sie aber mit den Hufen“, so Schreiber. Dafür habe er auch Verständnis, schließlich seien viele Produkte des Unternehmens in Lieferketten eingebunden. Auf der anderen Seite bittet aber auch er um Verständnis der Auftraggeber: „Wir dürfen und können erst wieder öffnen, wenn die Ansteckungsgefahr gegen null geht.“

Die gute Nachricht von Schreiber: „Der Recyclinghof in Tangerhütte öffnet wieder zu den gewohnten Zeiten.“ Allerdings werde auch hier der Gruppenleiter vorerst auf die Hilfe seiner drei behinderten Kollegen verzichten müssen.

Die Beschäftigten mit Handicap werden in dieser schweren Zeit selbstverständlich nicht alleingelassen. Rund 170 von ihnen werden in den Wohnbereichen Uchtspringe, Stendal und Tangerhütte betreut. Um dem Alltag ohne Arbeit die Monotonie zu nehmen, gibt es dort vielfältige Angebote. Beispielsweise kocht man gemeinsam, spielt oder bewältigt den Frühjahrsputz. Angeboten wird auch weiterhin der Fotokurs und die Ergotherapeutin animiert die Bewohner zu Sport- beziehungsweise Gymnastikübungen.

Etwa die Hälfte der Behinderten lebt bei den Eltern oder in den eigenen vier Wänden. Zu ihnen wird der Kontakt telefonisch gehalten. „Die Notbetreuung ist selbstverständlich abgesichert“, so Wallbaum. Von den infrage kommenden 30 Familien würden bisher fünf bis sechs dieses Angebot wahrnehmen. „Wir sind aber auch darauf eingestellt, dass es mehr werden können“, sagt die Leiterin des Begleitenden Dienstes. Mit Zunahme der Dauer der Krise sei damit zu rechnen.

Wann und mit welchen Schritten sich das Leben in der Tangerhütter Lebenshilfe wieder normalisiert, steht vorerst in den Sternen. Der Geschäftsführer hofft, dass möglichst viele Geschäftspartner zur Stange halten und die Auftragslage nach der Krise so sein wird, dass „der Laden laufen kann“. „Ohne Aufträge können wir auch kein Geld an unsere behinderten Mitarbeiter zahlen“, macht Schreiber deutlich. Für April seien diese Löhne noch sicher. Im Mai und erst recht im Juni könne es schon schwieriger werden.

In diesem Zusammenhang macht Dörthe Wallbaum auf eine Lücke im System aufmerksam, durch die die Lebenshilfe, als Mischung aus Wirtschaftsunternehmen und sozialer Einrichtung, fällt. Während für das Betreuungspersonal im Ernstfall noch die „Kurzarbeiter-Karte“ gezogen werden könne, sei dies für die Mitarbeiter mit Behinderungen nicht möglich. Diese würden zu klassischen Sozialhilfeempfängern werden. „Das hat die Politik nicht im Blick“, beklagt Wallbaum.