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Ungewöhnlich Wohnen Freiwillig hinter Gittern

"Wohnen an ungewöhnlichen Ort" ist für Monika Dutkiewicz aus Stendal Alltag. Sie lebt in einer ehemaligen Justizvollzugsanstalt.

Von Thomas Pusch 02.08.2016, 01:01

Stendal l Die Adresse klingt harmlos. Hallstraße 27 in Stendal. Doch dahinter verbirgt sich die ehemalige Justizvollzugsanstalt. Ende Januar 2010 war die Justizvollzugsanstalt nach Sturmschäden am Dach geräumt und nicht mehr genutzt worden. 2012 erhielt Bianka Richter-Mendau den Zuschlag für den Kauf – rund 37 000 Euro wechselten den Besitzer. Ende Februar dieses Jahres zogen die ersten Mieter ein.

Etwas später übernahm Monika Dutkiewicz ihre Schlüssel. „Ich bin hier Ende April eingezogen“, erzählt sie im Gespräch mit der Volksstimme. Ende Januar hat sie sich spontan für die Wohnung entschieden. „Ehe sie mir jemand wegschnappt, wollte ich doch dabeisein“, sagt sie. 17 Jahre lang wohnte sie zuvor in der Breiten Straße, gleich gegenüber von Puchert. Wichtig war ihr, dass sie ihre Küche mitnehmen konnte, das war kein Problem. „Dass es mal ein Gefängnis war, war kein Problem für mich, im Gegenteil, das hat mich gereizt, weil es etwas Besonderes ist“, beschreibt sie ihre ersten Eindrücke. Ihrer Wohnung ist auch anzusehen, dass sie mal eine Gefängniszelle war.

Klar habe es auch Zweifler gegeben. „Manche haben mich gefragt, ob ich nicht ein schlechtes Gewissen hätte“, nennt sie ein Beispiel. Aber warum sollte sie ein schlechtes Gewissen haben, sie habe doch niemanden hinter Gitter gebracht, erst recht nicht ungerechtfertigt.

Sie ist aber schon ins Gespräch mit einem ehemaligen Häftling gekommen. „Dadurch, dass hier noch gebaut ist, kommen viele Leute zum gucken“, erklärt sie. Und der Mann sprach sie an, als sie auf dem Balkon ihrer Parterrewohnung stand. Er erzählte ihr, dass er zu DDR-Zeiten wegen versuchter Republikflucht hinter Gittern gewesen sei. Eine Stunde lang unterhielten sich die beiden. Er habe es überhaupt nicht zynisch gefunden, dass das Gefängnis nun als Wohnort genutzt wird, im Gegenteil.

Lediglich ein vergittertes Fenster oben im Wohnzimmer erinnert an die vorherige Nutzung. Und der Schnitt ist ungewöhnlich. So hat Monika Dutkiewicz eine sehr große Diele, die der Vorflur zur Zelle war. Aber mit einem Schreibtisch und anderen Möbelstücken hat sie daraus einen gemütlichen Wohnbereich gemacht. Wie ihre Wohnung überhaupt eher zum Verweilen einlädt, statt zum möglichst baldigen Verlassen, wie es wohl die vorherigen Bewohner empfunden haben müssen.

„Ich habe es gerne gemütlich, wer hierherkommt, soll sofort wissen, dass hier jemand wohnt“, sagt sie. Wohnen, das sei ihr schon immer wichtig gewesen. Anders als in der Breiten Straße hat sie jetzt nicht mehr eine so weite Aussicht. „Wenn ich parterre wohne, kann ich keinen Balkonblick aus dem dritten Stock haben, das ist klar“, sagt sie schmunzelnd. Aber damit hat sie sich arrangiert, am Wohlfühlfaktor der Wohnung kann das nicht rütteln.

Auch nicht so manch witzig gemeinter Spruch, den sie sich anhören muss. „Na, hast du heute Freigang“, hört sie manchmal, wenn sie in der Stadt unterwegs ist. Aber das nimmt die ehemalige Lehrerin mit Humor. Sie fühlt sich wohl in der Nachbarschaft. „Es sind viele junge Leute, aber niemand, der so laute Bässe hört“, ist sie mit Humor an die Sache rangegangen. Sie lebt ruhig in der Hallstraße 27, das Läuten der Domglocken gehört für sie dazu, und selbst die Bauarbeiter würden Rücksicht nehmen, die ganz lauten Geräte erst ab 9 Uhr einschalten.

Das ruhige Leben wird für Oliver Merta und Jana Neubauer in ein paar Wochen ein Ende haben, denn dann bekommen die beiden Nachwuchs. Auch sie haben sich verhältnismäßig schnell für eine Wohnung im ehemaligen Gefängnis entschieden. „Da muss ich ein wenig weiter ausholen“, sagt er beim Treffen mit der Volksstimme. Im November vergangenen Jahres kam er von einer einjährigen Australienreise zurück. „Ich wollte einmal alles sehen, viele sind nur an der Ostküste, aber ich wollte auch zur Westküste, beispielsweise nach Perth“, beschreibt er. Seine Rückkehr kam pünktlich zum Geburtstag der Mutter. „Ich wollte sie überraschen“, sagt er verschmitzt. Jana habe er damals zwar schon gekannt, zusammen waren sie aber noch nicht. „Dann wurden wir aber ein Paar und bekamen ziemlich schnell die Nachricht, dass wir Eltern werden“, erzählt er weiter.

Nun musste also ein Zuhause gefunden werden, in dem auch ein Kinderzimmer Platz hat. „Uns war wichtig, dass wir uns wohlfühlen“, nennt er das Hauptkriterium. Merta selbst hatte zuvor keine großen Ansprüche ans Wohnen. Beim Studium in Halle teilte er sich eine Wohngemeinschaft mit vier Leuten, während seines Jahrs in Australien schlief er im Auto. Mit Frau und Kind sollte das natürlich anders werden und vor allem auch rechtzeitig. „Zwei, drei Monate vor der Geburt wollten wir eingezogen sein, um alles in Ruhe vorbereiten zu können. Und das ist auch geglückt. Das Kinderzimmer ist eingerichtet, hellblau dominiert. „Es wird ein Junge“, verrät Merta. Bei der liebevollen Einrichtung fallen die Gitter kaum auf, durch die auch der Kleine nach draußen sehen wird.

„Jana fand das erst etwas gruselig, ich mag ja das Extravagante“, beschreibt er den Unterschied. Mittlerweile haben sich aber beide gut eingewöhnt. Im Bekanntenkreis sind sie nicht die Einzigen, die das Gebäude von innen kennen: „Manche haben hier in ihrer Sturm- und Drangzeit ein Jahr gesessen“.