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Verlassene Orte Verfall einer Industriekultur

In den Gießereihallen in Tangerhütte greift der Verfall um sich. Dabei sind die Hallen die Keimzelle der jüngsten Stadt der Altmark.

Von Birgit Schulze 02.06.2017, 01:01

Tangerhütte l Vor 175 Jahren wurde die Grundlage für das Erblühen des Bauerndörfchens Vaethen zur jüngsten Stadt der Altmark gelegt. Dass das, was die Magdeburger Kaufleute Helmecke und Wagenführ damals mit Tatkraft und der „Hütte am Tanger“ anschoben, tausende Menschen und eine ganze Region prägen würde, ahnten sie damals wohl kaum.

Die Fabrikantenfamilie schuf nicht nur ein gewaltiges Betriebsgelände samt eigenem Gutshof, Meister- und Kutscherhäusern, Kegelbahn, Schützenhaus (heute Kulturhaus) und Kinderbewahranstalt (heute das DRK-Zentrum). Sie schuf auch das Alte und das Neue Schloss in einem rund zwölf Hektar großen englischen Landschaftspark, der auch Ausstellungsraum für die eigenen Produkte war. Ein echtes Highlight, das in Tangerhütte gegossen wurde, ist der 1889 gefertigte Kunstgusspavillon aus mehr als 400 Einzelteilen, der auf der Weltausstellung in Paris neben dem nagelneuen Eiffelturm gestanden haben soll. Mit einer Urkunde des preußischen Königs, der am 16. April 1842 ein Grubenfeld bei Weißewarte genehmigte, um das Raseneisenerz in der Tangerniederung abzubauen, fing in Tangerhütte alles an. Der erste Hochofen wurde dort errichtet, wo heute die Industriestraße liegt. Nach und nach wuchsen um die erste Gießerei größere Hallen und weitere Gebäude. 1842 begannen die Bauarbeiten, am 6. März 1844 floss das erste Eisen.

Über Generationen verwuchsen die Familien der Region mit der Gießerei am Tanger. Arbeiteten anfangs knapp 200 Menschen „auf der Hütte“, waren es um 1900 schon 1535 Menschen, jeder dritte Einwohner von Vaethen/Tangerhütte (damals waren es rund 4440) war damit ein Eisenwerker. Zur Wendezeit 1989 arbeiteten rund 1200 Menschen auf der Hütte und das bei knapp 8000 Einwohnern, diese Zahl sank erdrutschartig, als 1990 die Privatisierung samt radikaler Betriebsverkleinerung des damaligen „VEB Eisenwerk 1. Mai“ erfolgen musste.

Dass das Ende für die Gießerei schnell gekommen sein muss, sieht man heute in der „Gießerei I“, dem ältesten Teil der Gießereihallen. Zwischen nicht mehr gebrauchten Werkzeugen, alten Formkästen und Schaltschränken sind auch allerhand Flaschen mit einst hochprozentigem Inhalt liegen geblieben.

Nur ein Jahr nach der Privatisierung war die Zahl der Beschäftigten auf knapp 400 gesunken, zwei weitere Jahre später auf 150. War die Tanger-Hütte schon im 19. Jahrhundert ein Weltunternehmen mit bis zu elf Auslandsvertretungen, so steht das heutige Gießerei-Unternehmen „Techo-Guss“ als eine hochspezialisierte Kundengießerei auch in dieser Tradition. Armaturen, Antriebstechnik oder Getriebeteile werden dort produziert – etwa für das höchste Gebäude der Welt, den Burj Kalifa, den Drei-Schluchten-Staudamm in China oder das Kreuzfahrtschiff „Queen Mary 2“. Doch mit den historischen Hallen hat das Unternehmen nichts mehr zu tun.

Zur alten Gießerei I mit den schmucken Schaufassaden gehörten 1989 vor der Verkleinerung noch ein Schmelzbetrieb mit drei Kupolöfen sowie einem Elektro-Lichtbogenofen, außerdem eine Handformerei für Zylinderlaufbuchsen und Kugelgraphitguss und eine Former- und Kernformerlehrwerkstatt. Noch vorhandene Ausrüstung der Produktion wurde verschrottet.

Den zunehmenden Verfall der historischen Hallen will der Tangerhütter Verein „Aus einem Guss“ stoppen. Die Suche nach praktikablen Nutzungsmöglichkeiten und Ideen der Finanzierung wird im Rahmen des Bundesmodellvorhabens „Landaufschwung“ gefördert. Eine Machbarkeitsstudie wird derzeit erarbeitet.