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Neuer Flyer Wernigeröder Juden - gedemütigt und ermordet

Um über das Schicksal der Wernigeröder Juden zu informieren, hat Peter Lehmann mit einigen Mitstreitern ein Faltblatt erarbeitet.

Von Ivonne Sielaff 15.10.2015, 01:01

Wernigerode l Welcher Wernigeröder kennt sie nicht: die Villa Russo in der Feldstraße? Über die einstigen Besitzer des Jugendstilgebäudes ist den meisten dagegen wenig bekannt. Die Brüder Benno und Moritz Russo hatten 1893 in Wernigerode eine Käsefarik gegründet. Die Villa ließen sie bereits sechs Jahre vorher bauen. 1919 heiratete Benno Russo die Opernsängerin Clara Jaffe. Wegen ihres jüdischen Glaubens zwangen die Nazis die Russos 1936, Fabrik und Haus zu verlassen. Ihr Eigentum wurde zwangsversteigert und an einen Wernigeröder Nazi verkauft. Benno Russo starb am 18. April 1943 im KZ Theresienstadt. Seine Frau Clara wurde am 18. Dezember 1943 in Auschwitz umgebracht. Ihre Namen sind auf einer kleinen Messingtafel auf dem Fußweg vor der Villa eingraviert.

Nicht nur dort - beispielsweise auch in der Burgstraße, der Breiten Straße und in der Großen Bergstraße liegen solche Tafeln im Pflaster. Darauf stehen Namen sowie Geburts- und Sterbedaten von Wernigerödern: Rosenthal, Salomon, Steigerwald. Insgesamt sind es 22 „Stolpersteine“, die an die Wernigeröder Juden erinnern, die während der Zeit der Nazi-Diktatur gedemütigt, enteignet, vertrieben und ermordet worden.

Die Steine wurden 2009 von dem Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt - ausschließlich finanziert von Spenden der Wernigeröder. Die ehemaligen Stadträte Heinrich Hamel und Robert Marhold hatten intensiv für die Aktion geworben, bis der Stadtrat schließlich grünes Licht gab. Zuvor hatten Stadträtin Renate Goetz und der Bildbauer Karl-Heinz Ziomek intensiv über die Wernigeröder Juden recherchiert.

„Leider sind die Stolpersteine nicht mehr im Bewusstsein der Einwohner und Touristen“, sagt Peter Lehmann heute. Viele wüssten nicht einmal, was es mit den Messingtafeln auf sich hat. Deshalb hat der Heimatforscher und Pfarrer im Ruhestand ein Faltblatt erarbeitet. Zusammen mit Renate Goetz und Ralf Mattern trug er dafür zahlreiche Fakten zusammen. „Es geht uns darum, den Leuten Informationen zu den Stolpersteinen in die Hand geben zu können“, sagt Lehmann.

Vor einem halben Jahr stellte er das Projekt in der Wernigerode Tourismus GmbH (WTG) vor und erntete Zustimmung. Unter dem Titel „Spuren jüdischen Lebens“ wird die WTG den Flyer in deutscher und englischer Sprache herausgeben. Offiziell vorgestellt werden soll das Faltblatt am 9. November. Finanziell unterstützt wird das Projekt von der Musikgruppe „Triple B“, der Hochschule Harz und dem Kulturamt der Stadtverwaltung.

Aber nicht nur an die Namen auf den Stolpersteinen wollen Lehmann und seine Mitstreiter erinnern. „In Wernigerode haben natürlich noch einige mehr Juden gelebt“, sagt Lehmann. „Einige wohnten nur kurzzeitig hier und zogen dann wieder weiter. Ihre Namen sind aber mit einer Wernigeröder Adresse verbunden. Und wir wollen auch sie nicht vergessen.“ Deshalb enthalte das Faltblatt eine zweiseitige Liste mit Namen. „Von einigen ist etwas bekannt, von anderen wissen wir gar nichts.“

In den vergangenen Monaten recherchierte Lehmann in Anschriftenverzeichnissen, die es in Wernigerode seit 1872 gibt. „Hat man Name und Adresse, kann man im Gedenkbuch des Bundesarchivs suchen, in dem alle deutschen Juden verzeichnet sind. Auch die Internetseite der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem sei sehr hilfreich gewesen. „Dennoch ist noch vieles offen.“

Warum er sich mit dem Schicksal der jüdischen Mitbürger befasst? „Dieses Thema gehört zur Wernigeröder Geschichte wie Markt und Rathaus“, sagt Peter Lehmann. „Wie ist die Stadt damals mit Fremden umgegangen? Diese Frage ist heute aktueller denn je. Auch deshalb liegt mir das Thema am Herzen.“ Man müsse sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, um in die Zukunft zu gehen. „Damit sich so etwas wie damals nie wieder wiederholt.“

Geschichtlicher Hintergrund: Erste Hinweise auf eine Ansiedlung von Juden in Wernigerode sind auf das Jahr 1403 datiert. Sie lebten in der „Joddenstraße“, heute Oberengengasse. 1592 mussten sie die Stadt wegen einer gräflichen Verfügung verlassen. Ernst Reichsgraf zu Stolberg (1650 bis 1710) verfolgte eine liberalere Politik, doch die Bevölkerung widersetzte sich. Deshalb hatten zwar zehn Juden aus Derenburg Handelsrecht, aber kein Niederlassungsrecht in Wernigerode. Auch gegen das preußische Judenedikt von 1812, das Juden eine eingeschränkte Gleichstellung einräumte, lehnte sich die Stadt auf. Erst 1859 ließen sich wieder jüdische Familien in der Stadt nieder. Bis 1871 stieg ihre Zahl auf neun Familien an. Die Wernigeröder Juden bildeten 1913 mit denen in Derenburg und Heudeber eine Bundesgemeinde. Die Synagoge befand sich in Halberstadt. In der Progromnacht am 9. November 1938 wurden jüdische Geschäfte beschädigt und geplündert, Juden gedemütigt und verhaftet. Einige waren bereits zuvor emigriert oder vertrieben worden.