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60 Jahre Kreuzberg Ein Kinderheim feiert Geburtstag

Vor 60 Jahren ist am Kreuzberg in Wernigerode ein Kinderheim eröffnet worden. Im Inneren hat sich viel getan.

Von Sandra Reulecke 01.02.2016, 00:01

Wernigerode l „Es gab Zeugnisse!“ Stolz präsentiert der Achtjährige die Einschätzung seiner Lehrer: Lächelnde Gesichter in fast allen Fächern. Jutta Lehmann nimmt den Jungen herzlich in den Arm. Die 64-Jährige ist weder Mutter noch Großmutter des Kindes, doch sie bietet ihm und 20 anderen Mädchen und Jungen ein Zuhause. Sie ist die Leiterin des Kinder- und Jugendhauses „Kreuzberg“ in Wernigerode.

Seit genau 60 Jahren gibt es die Einrichtung: Im Februar 1956 wurde ein Vorschulkinderheim in der Villa eröffnet, die sich ein Marineoffizier um 1900 erbauen ließ. 55 Plätze gab es für Drei- bis Siebenjährige. Untergebracht waren sie in Gemeinschaftsschlafzimmern. „Für alle Bewohner gab es nur eine einzige Badewanne“, erinnert sich Jutta Lehmann und lacht.

Die Heimleiterin ist seit 46 Jahren in der Einrichtung tätig. „Den Beruf würde ich immer wieder wählen“, sagt die Wernigeröderin. Dass es einmal so sein würde, hätte sie selbst nicht gedacht. Eigentlich wollte sie im Kindergarten arbeiten. Als sie dann im Heim eingesetzt wurde, flossen Tränen, verrät die zweifache Mutter. Doch die Kinder wuchsen ihr schnell ans Herz.

Stolz berichtet sie von den Erfolgsgeschichten ehemaliger Bewohner. Einer ist Jodlermeister geworden, ein anderer macht Karriere als Gastronom in der Schweiz. Einige der Jungen und Mädchen halten über Jahrzehnte Kontakt zur Einrichtung, kommen zu Besuch, schicken Karten. „Die, denen es gut geht, die melden sich“, sagt die Leiterin nachdenklich.

Sie weiß, dass nicht alle nach dem Heim in ein erfolgreiches Leben starten. So unterschiedlich die Gründe sind, warum sie im „Kreuzberg“ leben, so unterschiedlich verlaufen ihre Biografien. „Manche der Kinder müssen aus ihrer gewohnten Umgebung genommen werden, weil sie in schlechte Kreise geraten sind oder die Schule verweigern“, erläutert die Leiterin. Andere haben Gewalt und Vernachlässigung in ihren Elternhäusern erlebt. Das Klischee, dass Heimkinder Waisen sind, kann Jutta Lehmann nicht bestätigen. „Die meisten haben Kontakt zu ihren leiblichen Eltern.“

Doch so lange die Kinder nicht zuhause leben können, übernehmen Jutta Lehmann und ihr Team die Rolle der Ersatzfamilie. Drei bis vier Kinder haben einen Erzieher als festen Ansprechpartner. Es wird gemeinsam gegessen, Hausaufgaben werden erledigt, es gibt Ausflüge und Reisen. „Wir versuchen, ihnen ein familiäres Umfeld zu bieten“, sagt Erzieherin Jessica Heeren. Die 24-Jährige ergänzt: „Dazu gehören auch Regeln und Pflichten.“

So haben die Mädchen und Jungen mit den Erziehern ein Regelwerk erarbeitet. Wer mehrfach dagegen verstößt, muss mit Strafen rechnen. „Das kommt aber nicht häufig vor“, versichert Jessica Heeren. „Wir bekommen von außen viel Lob, wie gut sich die Kinder benehmen.“ Sogar die Ältesten halten sich an das Rauch- und Alkoholverbot auf dem Gelände – obwohl sie schon 18 Jahre alt sind.

Denn seit einer Sanierung in den Jahren 1990 und 1991 wird eine andere Altersgruppe in der Villa betreut: Die 13 Mitarbeiter kümmern sich nun um Mädchen und Jungen vom 6. bis zum 18. Lebensjahr. Um sie auf ein selbständiges Leben vorzubereiten, bekommen die Bewohner altersgerechte Aufgaben: Aufräumen, beim Einkaufen und Kochen helfen, erläutert Jessica Heeren.

Derzeit fertigt die Erzieherin Collagen mit Fotos aus der 60-jährigen Geschichte des Heimes, das seit 2004 zum AWO Regionalverband Harz gehört, und ist überrascht, wie sich das Haus verändert hat. „Äußerlich ist es fast gleich geblieben, aber innen hat sich viel getan“, resümiert sie.

Heute wohnen die 21 Mädchen und Jungen in geräumigen Ein- und Zweibettzimmern. Es teilen sich nie mehr als drei Personen ein Bad. In den drei Wohngruppen – gestaffelt nach dem Alter – stehen jeweils eine Küche und ein gemeinsamer Aufenthaltsraum zur Verfügung.

Wer sich einen Eindruck von der Villa mit dem Schlossblick verschaffen möchte, ist am Mittwoch, 10. Februar, in dem AWO-Kinder- und Jugendhaus willkommen. Anlässlich des 60. Bestehens findet für Gäste, ehemalige Bewohner, Mitarbeiter und Nachbarn von 14 bis 17 Uhr eine Feier statt.