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Abschied Sontheimer: "Habe gern hier gearbeitet"

Dieter Sontheimer geht in den Ruhestand. Mehr als 19 Jahre lang hat er als Chefarzt die Wernigeröder Kinderklinik geführt.

Von Katrin Schröder 31.05.2017, 01:01

Wernigerode l Der Abschied fällt Dieter Sontheimer nicht leicht. „Vor ein paar Wochen habe ich noch gedacht, ich nehme es ganz locker“, sagt der 65-Jährige. „Aber jetzt bin ich schon traurig.“ Am Mittwoch, 31. Mai, ist offiziell sein letzter Tag als Chefarzt der Wernigeröder Kinderklinik. Mehr als 19 Jahre lang hat Dieter Sontheimer kranke Lungen abgehört, in fiebrige Kinderaugen geblickt und nervöse Eltern beruhigt. Nun steht ein neuer Lebensabschnitt bevor. „Es war an der Zeit. Es passt jetzt.“

Emotional waren der Empfang im Wernigeröder Harzklinikum und die Feier mit den Mitarbeitern auf der Charlottenlust. Von vielen Reden und Geschenken, von Beifall berichtet Sontheimers Ehefrau Kerstin. Der Chor der Kindertagesstätte „Quasselstrippe“ sang, sein Enkel Max trug ein Gedicht vor. „Es war sehr bewegend“, so Sontheimer im Volksstimme-Gespräch. „Mir kamen öfter die Tränen.“

Dass Wernigerode sein Arbeits- und Lebensmittelpunkt werden würde, war nicht abzusehen. Geboren in Karlsruhe und aufgewachsen im Taunus, studierte Sontheimer Medizin in Marburg, Berlin und Heidelberg. Dort promovierte er, absolvierte seine Facharztausbildung und war Oberarzt an der Kinderklinik der Universität. Im Ärzteblatt las er von der Ausschreibung in Wernigerode. „Ich kannte den Osten gar nicht“, sagt der Mediziner. Ohne Vorurteile habe er sich für den Wechsel entschieden.

Am 1. Mai 1998 trat er seinen Dienst im Harz an – als einer der ersten „Wessis“ im Harzklinikum. „Ich bin sehr freundlich aufgenommen worden“, betont Sontheimer. Der Mediziner brachte frischen Wind in die Kinderklinik – für manche ein wenig zu frisch, sagt Kerstin Sontheimer. Die 53-Jährige stammt aus Wernigerode, hat ihre Ausbildung zur Krankenschwester im Harzklinikum absolviert und den Amtsantritt des neuen Chefs gut in Erinnerung. „Es war am Anfang recht viel für uns. Wir haben ein wenig auf die Bremse getreten“, sagt sie rückblickend. „Wirklich?“, fragt er erstaunt. Dabei habe er sich bemüht, nicht an allen Fronten die Revolution auszurufen. „Ich habe zum Beispiel die Kinderärzte besucht und zuerst gefragt: Was soll so bleiben, wie es ist?“

Was sich aus seiner Sicht ändern musste, war die Betreuung von Neu- und Frühgeborenen. Babys, die zu früh zur Welt kamen, mussten ständig im Brutkasten bleiben, ihre Eltern konnten sie nur durch eine Glasscheibe betrachten oder bekamen sie wochenlang gar nicht zu Gesicht. „Furchtbar“, sagt Dieter Sontheimer. „Für viele war das traumatisch.“ Der Mediziner verfolgte einen anderen Ansatz. Er wollte die Eltern einbeziehen, offen sein und Nähe ermöglichen.

„Für uns war das eine Revolution“, so Kerstin Sontheimer. Sie gehörte mit Kinderärztin Uta Grumpelt und Krankenschwester Christiane Klein zum Team, mit dem der Chefarzt den Aufbau der Neonatologie plante. „Mein Herz war schon immer bei den ganz Kleinen“, sagt sie. Die Stimmen der Schwestern wurden gehört, auch das war neu. Gemeinsam konnten sie mitbestimmen bei der Gestaltung der Station – bei Lage und Aufbau der Räume, bei den Farben von Wänden, Böden und Gardinen. „Ein Ort zwischen Intensivstation und Wohnzimmer“ sollte es werden. Mit vier Betten startete die Abteilung im September 1999, sechs bis acht Kinder können heute betreut werden, 200 sind es jedes Jahr.

Das Ehepaar brachte auch in der Theorie die Frühgeborenenmedizin voran, schrieb Ratgeber und arbeitete maßgeblich an den zehn Leitsätzen mit, die heute Standard für die Betreuung Frühgeborener sind. „Es gab Jahre, in denen wir in Wernigerode viele Impulse für Deutschland gesetzt haben“, sagt er. Für den Chefarzt stand das Wohl der Patienten und Eltern an erster Stelle. „Kinder sollen bei uns nicht weinen“, lautet seine Devise – auch aus persönlichen Gründen: „Ich kann das überhaupt nicht aushalten.“

Er hofft, dass die Ideen, die seine Frau und er in Wernigerode etabliert haben, bleiben. Dass in der Medizin immer knapper kalkuliert werde, Verwaltung und Dokumentation Zeit und Ressourcen fressen, sei eine Fehlentwicklung. „Ich habe Angst, dass wirtschaftliche Überlegungen überhand nehmen“, sagt er – obwohl das Harzklinikum sehr „human“ geführt werde. Seinem Nachfolger Henning Böhme wünscht er alle Unterstützung – „so wie ich sie hatte.“

Große Pläne für den Ruhestand hat Dieter Sontheimer nicht. „Ich möchte den Alltag, die kleinen Dinge genießen, bewusster leben“, sagt er – gemeinsam mit seiner Frau, die die Stationsleitung abgibt und beruflich einen Gang herunterschaltet.

Kurzreisen gehören dazu, gerne mit dem Fahrrad, Elbe- und Saaleradweg locken. Für Tangoreisen wollen sich beide Zeit nehmen, vielleicht wieder nach Äthiopien fahren. Drei Wochen lang haben die Sontheimers im April in einem großen Krankenhaus geholfen, 200 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Addis Abeba. Zehn bis 20 Babys kommen täglich zur Welt, die Kindersterblichkeit ist hoch. Die Erlebnisse lassen sich nicht einfach abschütteln. „Doch es gab auch viele schöne Momente“, sagen beide.

Vor lauter Arbeit kamen beide kaum aus der Klinik heraus – so wie der Beruf zu Hause den Rhythmus vorgab. Das ändert sich jetzt, sagt Sontheimer. Ständig wieder in der Klinik auftauchen wolle er nicht, trotz der guten Zeiten in Wernigerode. „Ich habe wirklich gerne hier gearbeitet.“