1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wernigerode
  6. >
  7. Graben nach der Erinnerung

Geschichte Graben nach der Erinnerung

Die Ausgrabungen in der unteren Breiten Straße bewegen die Wernigeröder. Einige berichten vom Krieg und dem Bombenangriff auf die Stadt.

Von Ivonne Sielaff 06.12.2016, 00:01

Wernigerode l Seit gut zwei Wochen wird die Freifläche zwischen Breiter Straße, Johannisstraße und Brandgasse von Archäologen untersucht. Während die Experten interessante Funde machen, erinnern sich die älteren Wernigeröder an jene Zeit, in der noch Häuser auf dem Areal standen.

Waltraud Schwarzer hat mit ihrer Familie bis 1936 in der Johannisstraße gewohnt. „Mein Vater war Frisör Rahner. Er hatte sein Geschäft etwas weiter hinten in der Johannisstraße.“ Sonntags ist sie mit anderen Kinder aus der Umgebung zum Sonntagsgottesdienst gegangen. „Wir wurden von Schwestern der Kirchengemeinde St. Johannis begleitet.“ Die Sonntagsschule stand an der Brandgasse, ungefähr dort, wo die Archäologen das stattliche Kellergewölbe aus dem Spätmittelalter freigelegt haben, so die 84-Jährige.

Helga Kowanda wurde in der Johannisstraße 10 geboren. 1936 sei sie zur Großmutter nach Hasserode gezogen. Nach dem Bombenangriff am 22. Februar 1944 sei sie mit ihrem Großvater in die Stadt gegangen. „Ihre Bekannte Lilo Franke arbeitete damals bei Kürschnermeister Poetzsch in der Breiten Straße 63 als Verkäuferin.“ Nach dem Fliegeralarm seien alle Mitarbeiter aufgefordert worden, sofort in den Keller zu gehen. „Lilo Franke wollte aber nach Hause zu ihrer Familie in die Große Dammstraße. Als sie am Ölberg war, fielen die ersten Bomben. „Sie hatte Glück, keiner der Menschen aus dem Keller hatte den Bombenangriff überlebt“, so Helga Kowanda.

Auch Irmgard Winter hat in ihren Erinnerungen gegraben. „Am 22. Februar 1944 war ich vormittags mit meiner Mutter bei Herrn Poetzsch im Laden. Es kam seine Tochter mit ihrem Baby hinzu.“ Sie habe gesagt, wenn heute Fliegeralarm sei, würde sie mit der Kleinen nicht in den Keller gehen, weil sie erkältet sei. „Poetzschs gingen immer gegenüber zu Fuhrmanns in den Keller“, schreibt die Wernigeröderin, die damals sechs Jahre alt war. „Gegen 14 Uhr fielen die Bomben. Wir wohnten in der Großen Bergstraße. Dort im Keller habe ich den Angriff erlebt. Bei Poetzschs gab es einen Volltreffer. Später erzählten die Männer, die dort in den Trümmern nach Überlebenden suchten, dass man von der Tochter und ihrem Baby keine sterblichen Überreste gefunden hätte. Deshalb habe ich so ein komisches Gefühl, als es hieß, dass dort jetzt wieder gegraben wird.“

Am nächsten Tag sei sie mit ihrer Mutter in der Breiten Straße gewesen. „Die Straße lag voller Schutt und Holzbalken“, so Irmgard Winter. „Bei Poetzschs stand in der Mitte der Trümmer ein Kachelofen. Er qualmte noch.“ Dass es vom Schloss einen Gang zur Stadt gibt, erzähle man sich schon lange, so die Wernigeröderin. „Bei Fliegeralarm sind wir in den Weinkeller unter dem Schloss gegangen, der hinter dem Forstamt in der Lindenallee ist. Von dort aus hatte man einen Tunnel zum Herauskriechen gebuddelt, der am Annaweg endete. Der ist heute zugeschüttet.“

Dass die Archäologen tatsächlich einen Tunnel zum Schloss entdeckt haben könnten, wie einige Wernigeröder jetzt vermuten, bezweifelt unser Leser Marcel Guckland. „Das Gerücht von den Fluchttunneln kenne ich auch.“ Ein Gang dieser Länge, mit mindestens 2000 Metern, hätte im Mittelalter zu viel Zeit und Ressourcen gekostet. Unter Mitarbeit von Uta Müller