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Integration Angst um Schwestern in Syrien

Der Angriff gegen die syrische Grenzstadt Afrin trifft die Familie des Integrationspreisträgers Samir Sido aus Wernigerode.

Von Julia Bruns 02.02.2018, 00:01

Wernigerode l Es ist der 13. Januar 2018 – der Tag, an dem sich für die Menschen im syrischen Afrin alles ändert. Die Türkei startet einen Militärangriff auf die Stadt, die sich unmittelbar an der Grenze zur Türkei befindet. Dort leben vor allem syrische Kurden. 78 Flugzeuge steuern auf die Stadt zu, werfen Bomben ab. „Am Abend hat meine Schwester Yasmin ihren Sohn zur Welt gebracht“, berichtet Samir Sido.

Das letzte Mal, als sich der Syrer in der Redaktion der Volksstimme zum Interview eingefunden hatte, ist noch nicht lange her. Doch der Anlass ist ungleich trauriger. Berichtete der 34-Jährige Ende Dezember noch über den Integrationspreis des Landes, den er aufgrund seines vielfältigen Engagements erhalten hatte, ringt er diesmal mit den Tränen. Zwei seiner vier Schwestern wohnen in Afrin, seiner Heimatstadt, die unter der Operation „Olivenzweig“ von türkischen Kämpfern Stück für Stück in Schutt und Asche gelegt wird. Auf der anderen Seite attackiert der Islamische Staat die Stadt. „Ich kann es nicht verstehen, dass die Türken jetzt diese Offensive führen“, sagt Samir Sido, der seit zwei Jahren in Wernigerode lebt und derzeit als Brückenbauer beim Internationalen Bund beschäftigt ist. „Wo sind die Demonstranten, die gegen diesen Krieg auf die Straßen ziehen? Wo sind die Menschenrechtsorganisationen?“ Er suche das Gespräch mit der Volksstimme, um auf das Leid der Menschen, die in seiner Heimat um das nackte Überleben kämpfen, aufmerksam zu machen.

Die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan geht mit der Offensive laut offiziellen Stellungnahmen gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor, die sie als syrischen Zweig der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betrachtet. Mit der Operation will Ankara die YPG-Kämpfer aus Afrin vertreiben. „Doch die Attacken treffen alle Bewohner, auch viele Flüchtinge, die sich in Afrin aufhalten“, sagt Samir Sido. Bei einem Angriff auf einen nahegelegenen Staudamm sind auch Zivilisten getötet worden. Laut Presseberichten starben 51 Menschen, darunter 17 Kinder.

„Die türkischen Truppen geben sich als Friedenskämpfer aus. Doch das eigentliche Ziel ist es, Kurden töten.“ Der Musikpädagoge spricht unumwunden von einem Völkermord, der in der 500.000-Einwohner-Stadt vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet. „Dabei haben wir Kurden Syrien gegen den Islamischen Staat verteidigt“, sagt er. 300.000 Menschen aus den umliegenden Regionen – viele von ihnen Muslime – waren in den vergangenen fünf Jahren nach Afrin geflüchtet. „Wir Kurden haben ihnen ein Flüchtlingscamp aufgebaut. Wir sind doch alles Menschen – egal, welcher Religion wir angehören“, sagt Samir Sido. Bis noch vor wenigen Wochen galt die Stadt als einigermaßen sicher. Seine Schwestern waren deshalb nicht geflohen.

Er war gerade in der Probe eines Gospelchores, als seine Schwester Nesrin ihn anrief. „Sie sagte, ich soll in die Nachrichten schauen“, erinnert er sich an jenen 13. Januar. „Als ich gesehen habe, was in Afrin geschieht, konnte ich nicht weiter proben. Ich bin nach Hause gegangen und habe versucht, meine Schwestern zu erreichen.“ Der Kontakt sei mittlerweile nur noch schwierig zu halten. „Es werden ganz bewusst Funkmasten bombardiert. Ich habe zuletzt vor zwei Tagen mit ihnen gesprochen.“

Die 25-jährige Yasmin lebt mit ihrem Mann, der anderthalbjährigen Tochter Fatuma, der dreijährigen Fofo und dem Neugeborenen Hammode in Afrin. Seine 30-jährige Schwester Sosen wohnt mit ihrem Mann und Tochter Laresa in der Stadt. Laresa ist drei Jahre alt. Samir Sido hat zwei weitere Schwestern: Die 22 Jahre alte Nesrin, die mit ihm gemeinsam nach Deutschland geflohen ist. Und die 27-jährige Senab, die in Griechenland lebt.

Nur anderthalb Kilometer von Yasmins Haus entfernt waren am ersten Angriffstag Bomben gefallen. „Sie treffen Wohnungen. Unter den Toten sind Kinder und Frauen. Am Telefon höre ich die Kinder weinen. Sie haben Angst, dass die Flugzeuge wiederkommen“, berichtet er. Er zeigt Bilder, die haften bleiben. Bilder, die zu grausam sind, um sie auf Facebook zu teilen, wie er sagt. Von toten Kindern, Frauen, denen ein Bein fehlt und verwundeten Männern. „Wir müssen versuchen, meine Schwestern aus Afrin herauszuholen“, sagt er. Wir – das sind sein Vater, der außerhalb von Afrin lebt und er. „Ich bin doch ihr großer Bruder. Es ist nicht einfach hier zu sitzen und nichts zu tun, machtlos zu sein.“ Es sei nahezu unmöglich, die Familien sicher aus der Stadt zu bringen, vorbei an IS und türkischen Truppen.

Stündlich liest er die Nachrichten, um Neues zu erfahren. „Ich habe Angst vor dem Moment, wenn ich unter den Namen der Toten ihre Namen lese“, sagt er. „Die Ideologie, die der IS hat, ist, die Männer zu töten und die Frauen zu rauben.“ Der Krieg in seiner Heimat beschäftigt den Integrationspreisträger intensiv. „Es fällt mir derzeit schwer, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Gedanken sind bei meiner Familie.“ Er frage sich vor allem, wie die Zukunft aussehen soll. „Wie sollen Muslime und Kurden weiter zusammen leben?“, sagt er.

Die Türkei und Syrien teilen sich eine rund 900 Kilometer lange Grenze vom Mittelmeer bis zum Tigris. Erdogan hat bereits angekündigt, die Operation „Olivenzweig“ auf weitere kurdische Städte auszuweiten.