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Meteorologie Tornados viel häufiger als meist angenommen

Ein Unwetter - wohl samt Tornado - hat im Harz schwere Schäden verursacht. Die Wirbelstürme nachzuweisen kann einem Kriminalfall ähneln, so ein Experte.

Von Holger Manigk 31.07.2019, 01:01

Wernigerode | Thomas Sävert gilt als führender Tornado-Experte Deutschlands. Der Meteorologe spricht über das schwere Unwetter im Oberharz vom Sonnabend, 20. Juli.

Volksstimme: Sie betreiben seit fast 20 Jahren die Tornadoliste für Deutschland, überprüfen mit ihrem Team mögliche Wirbelstürme. Wie unterscheiden Sie einen Tornado von einem gewöhnlichen Unwetter?
Thomas Sävert:
Im Idealfall ist einer unserer Experten vor Ort, oder es gibt Videos und Fotos als eindeutige Beweise. Ansonsten müssen wir uns wie in einem Kriminalfall an die Wahrheit herantasten: Dazu brauchen wir glaubwürdige Zeugen. Unsere Fachleute begutachten die Schäden – etwa abgebrochene Bäume – und können daraus Windge-schwindigkeiten schlussfolgern.

Am Sonnabend, 20. August, hat ein schweres Unwetter den Harz heimgesucht. Wann ist mit einer endgültigen Bewertung zu rechnen, ob es sich dabei tatsächlich um einen Tornado handelte?
Das ist schwer zu beantworten, in manchen Fällen gibt es nach Jahren noch neue Hinweise. Bis dahin bleibt das Ereignis auf der Verdachtsliste. Die Indizien, die wir bislang von Sturm-Spotter Torsten Stein und aus Augenzeugen-Berichten erhalten haben, klingen sehr deutlich nach einem Tornado. Wir müssen von einem punktuellen Ereignis in der Waldsiedlung Eggeröder Brunnen ausgehen. Die Schäden sind räumlich eng begrenzt. Dass eine Hollywood-Schaukel abhob und verfrachtet wurde, ist ein weiteres Indiz für einen Wirbelsturm.

Gehen Sie davon aus, dass die Tornado-Gefahr in Mitteldeutschland steigt?
Die Zahl der Verdachtsfälle, die unserem Team gemeldet werden, schwanken stark: 2016 waren es beispielsweise mehr als 400. Eine dreistellige Zahl ist es seit Gründung unserer Arbeitsgruppe 2010 aber jedes Jahr. 30 bis 60 Tornados jährlich können wir bestätigen, die meisten davon in der Zeit von Mai bis September.
Es gibt auch Unwetter-Ereignisse, bei denen Fachleute selbst dabei sind und nicht wissen, was genau passiert. Tatsache ist aber: Es gibt bei uns viel häufiger Tornados, als allgemein angenommen wird. Daher wehre ich mich auch gegen die verniedlichende Umschreibung „Mini-Tornado“, die viele Medien gern benutzen.

Aber mit solcher Wucht, wie sie von Wirbelstürmen aus Amerika bekannt ist, müssen wir nicht rechnen?
Tornados können bei uns ebenfalls hohe Windgeschwindigkeiten aufweisen, so im Mai 1979 im Süden Brandenburgs bis etwa 400 Kilometer pro Stunde. Damals wurde ein schmales Waldstück komplett weggefegt, tonnenschwere Mähdrescher wurden herumgewirbelt.In Sachsen-Anhalt dürfte der Fall Micheln im Landkreis Anhalt-Bitterfeld vom 23. Juni 2004 am bekanntesten sein. Im Dorf und dem Nachbarort Trebbichau wurden rund 275 Häuser beschädigt, wir gehen von Windgeschwindigkeiten um 300 Kilometer pro Stunde aus.

Sind Harz-Orte durch das Gebirge da besser geschützt oder bedeutet diese Lage noch mehr Risiko?
Das zu erforschen, ist das Ziel einer Arbeitsgruppe, in der ich mitarbeite. Wir sammeln erst seit 20 Jahren wieder Daten zu Wirbelstürmen in Mitteleuropa. Dabei war Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts führend in der Forschung. Alfred Wegener – vor allem bekannt als Polarforscher – etwa definierte, was unter einem Tornado zu verstehen ist: ein schnell rotierender Luftwirbel, der von der Unterseite einer Wolke bis zum Erdboden reicht. Leider wurde dieses Feld bei uns über Jahrzehnte vernachlässigt.

Was sich allerdings sagen lässt: Wir gehen von einer Tendenz aus, dass es im Norden Deutschlands mehr Tornados gibt als im Süden. Dazu sammeln wir Beweise für eine Tornado-Gasse von Nordfrankreich über die Benelux-Staaten und Norddeutschland bis nach Weißrussland – ähnlich der bekannten Tornado-Alley im Mittleren Westen der USA.

Hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung von Unwettern und Stürmen etwas geändert, seitdem Sie um das Jahr 2000 die Tornadoliste gründeten?
Definitiv – dazu tragen vor allem Smartphones bei, mit denen quasi jeder zum Fotografen wird, und die sozialen Medien. Nach einer schweren Gewitterlage wie Ende Mai bis Anfang Juli 2016 kann es schon mal vorkommen, dass ich 2000 E-Mails und genauso viele Nachrichten über Facebook bekomme. Aber das bedeutet nicht, dass Unwetter häufiger geworden sind.