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Obstanbau Der Retter der Halberstädter Jungfer

Auf Streuobstwiesen in Heimburg und bei Mahndorf im Harz bewahrt ein Mediziner alte Apfelsorten vor dem Aussterben.

Von Jens Müller 24.01.2019, 00:01

Wernigerode/Heimburg/Mahndorf l „Der Apfel ist nicht nur Nahrungsmittel, sondern Kulturgut“, sagt Matthias Bosse. „Wir kennen ihn ja schon von Adam und Eva. Die Germanen haben für die Herstellung ihres Mets neben Honig vor allem Äpfel benutzt. Wilhelm Tell hat einem Jungen einen Apfel vom Kopf geschossen, und ein bedeutender Computerhersteller benutzt ihn sogar als Logo“, fasst der Mediziner aus Wernigerode die Bedeutung dieser Früchte humorvoll zusammen. Er selbst verbindet mit dem Lieblingsobst der Deutschen aber eine besonders innige Verbindung.
Als Mediziner schätzt Matthias Bosse nicht zuletzt die positiven Eigenschaften, die dem Apfel in der traditionellen Heilkunde zugeschrieben werden. „Sie können das Risiko von Herz- und Gefäßerkrankungen, Asthma und sonstigen Lungenfunktionsstörungen senken, haben keimtötende und krebsvorbeugende Wirkung und beugen Magenerkrankungen vor“, zählt er einige Wirkungen auf. Nicht umsonst heißt es in einem englischen Sprichwort: „An apple a day keeps the doctor away“ - auf deutsch: „Ein Apfel pro Tag hält den Doktor fern.“
Einige alte Sorten seien zudem für Allergiker besser verträglich und für Diabetiker geeignet. Die Krux: Die modernen Apfelsorten, die es aktuell in den meisten Märkten zu kaufen gibt, sind laut Dr. Bosse ärmer an diesen gesundheitsfördernden Inhaltsstoffen. „Mit der Zeit sind sie unbeabsichtigt herausgezüchtet worden - zugunsten eines schöneren Aussehens, dem Verhindern von Braunfärbungen und längerer Lagerfähigkeit“, erläutert der Mediziner.
Aus seiner Sicht steht der Apfel exemplarisch für die Verarmung der deutschen Esskultur und als Opfer der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion. „Zur Blütezeit des deutschen Apfelanbaus Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland rund 2400 Apfelsorten“, weiß Matthias Bosse. Heute, so schätzt er, werden lediglich 30 bis 40 Sorten noch wirtschaftlich genutzt. „In den heutigen Supermärkten finden wir vielleicht sechs bis acht Sorten.“
Dieser Entwicklung stemmt sich Bosse mit einem einzigartigen Projekt entgegen. 2010 erwarb er die Streuobstwiese „Alter Jacob“ am Osterholz zwischen Blankenburg und Wilhelmshöhe. Auf rund fünf Hektar baut er dort Raritäten an. Oder wie er seine eigene Marke treffend nennt: „Dr. Bosse Traditionsobst.“ Der Name ist Programm. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Apfelproduzenten hat er sich mit Ehefrau Annika und einem kleinen Mitarbeiterstamm dem Erhalt alter deutscher Apfelsorten verschrieben. „Uns geht es darum, diese Sorten vor dem Aussterben zu bewahren.“
Inzwischen hat er bei Heimburg und in Mahndorf weitere Streuobstflächen erworben, wo der Altbestand gezielt durch neue Bäume – inzwischen sogar aus eigener Zucht - ergänzt wird. Dort sind rund 200 verschiedene alte Apfelsorten mit solch klangvollen Namen wie Hanauer Bischofsmütze, Kaiser Wilhelm und Rheinischer Winterrambur zu finden. Hinzu gesellen sich 20 verschiedene Kirschen- und 30 Birnensorten.
Darüber hinaus haben es dem Wernigeröder die wenigen heimischen Apfelsorten angetan. Denn der Harz, so Dr. Bosse, ist eigentlich kein klassisches Anbaugebiet. Der Adersleber Kavill, der Halberstädter Jungfernapfel und der Schöne aus Nordhausen sind jene wohlklingenden Sorten, die es für die Nachwelt zu erhalten gilt. Das gilt übrigens auch für die beiden Lieblings-Apfelsorten von Matthias Bosse: „Der Weiße Winterglockenapfel und der Gelbe Bellefleur sind in unserer Gegend relativ selten.“