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WaldwandelVorbild aus Bayern für Nationalpark Harz

Der Bayerische Wald hat in den 1990er Jahren das erlebt, was derzeit im Harz passiert: Ein Sterben der Fichtenwälder. Wie sieht es nun aus?

26.09.2020, 23:01

Franz Baierl ist im Nationalpark Bayerischer Wald Leiter des Sachgebiets für Wald- und Flächenmanagement. Er koordiniert die Borkenkäferbekämpfung in den Rand- und Entwicklungszonen nebst Holzverkauf. Volksstimme-Reporterin Julia Bruns hat mit ihm über Parallelen zum Harz gesprochen.

Herr Baierl, wir sprechen am Telefon. Ich bin im Harz, Sie sitzen im Nationalpark Bayerischer Wald, der interessanterweise fast genau so groß ist wie der Nationalpark Harz mit über 247 Quadratkilometern.
Franz Baierl: Noch! Es gibt Diskussionen, dass er um etwa 600 Hektar vergrößert wird. Der Grund ist, dass der Nationalpark Bayerischer Wald im Herbst 50 Jahre alt wird. Ein Projekt zum Geburtstag ist eine Erweiterung im Osten des Nationalparks. 1996 gab es die ersten Überlegungen, den Nationalpark, der damals gut 13.000 Hektar groß war, um 11.000 Hektar zu vergrößern. Es gab große Diskussionen. Es hatten sich ein Kontra-Verein und zwei Pro-Nationalpark-Vereine gegründet. Der Nationalpark wurde schließlich um diese 11.000 Hektar erweitert. Es wurden Entwicklungszonen ausgewiesen. Es war eine aufreibende Zeit.
Abgesehen von der fast identischen Fläche findet man noch mehr Parallelen: In beiden Nationalparks dominiert die Fichte, der Brotbaum der Forstwirtschaft. In beiden Wäldern fühlt sich auch der Borkenkäfer sehr wohl.

Beide Nationalparks bauen auf den natürlichen Waldwandel, lassen Totholz liegen und stoßen damit nicht immer auf Gegenliebe. Können Sie sich persönlich noch an den Bayerischen Wald Anfang der 1990er erinnern?
Ich kann mich gut an den Wald Mitte der 1990er erinnern – ich bin seit Anfang 1995 hier. Anfangs war ich im Forstamt Zwiesel tätig. Ich war damals – anders als heute – für einen normalen Wirtschaftswald zuständig, der dann 1997 in den Nationalpark eingegliedert wurde.

Wie sah es damals aus?
Wir hatten die erste große Buchdruckerwelle in den Jahren 1995 bis 2000. Das war damals am Lusen, einer der höchsten Berge mit 1373 Meter. In diesen oberen Lagen wächst von Natur aus reiner Fichtenwald. Da ging es schon 1993 los mit dem Absterben der ersten Flächen.

Wie hat man anfangs auf den Borkenkäfer reagiert?
Die erste Entscheidung in dieser Richtung ist bereits 1983 gefallen, als entschieden wurde, dass Bäume, die durch Windwürfe umgestürzt sind, liegengelassen werden. Die Hauptwelle kam dann ab 1993 , das war ein sehr trockenes, heißes Jahr. Vorher gab es verschiedene Sturmereignisse, wir sprechen von Windwürfen. Überall waren einzelne Windwürfe zu finden. Und dort hat sich der Buchdrucker aufgebaut. Um den Lusen sind 98 Prozent der alten Fichten abgestorben.

Wie haben die Menschen auf diese rasante Veränderung reagiert?
Das war für die meisten ein totaler Schock, weil diese Bilder keiner kannte. Es gab 1870 bis 1880 schon einmal ein Fichtensterben – aber das weiß natürlich keiner mehr. Das Bild war ganz ähnlich: Im Böhmerwald gab es einen großen Windwurf. Wenn man die alten Beschreibungen liest, muss es 120 Jahre vorher also ganz ähnlich ausgesehen haben. Für einen Teil der einheimischen Bevölkerung war es schockierend. Drum hat sich gerade im Zwiesler Winkel eine Bürgerbewegung gegründet, die auf die Straße gegangen ist.

Was haben die Leute damals ganz konkret befürchtet?
Sie haben negative Auswirkungen auf das Grundwasser befürchtet. Sie haben argumentiert, dass der Wald die Touristen abschrecken würde. Sie hatten Angst, dass nie mehr Wald nachkommt, dass es zu Bodenerosionen kommt.

Es sind ganz ähnliche Argumente, die man bei uns im Harz immer wieder hört. Sie haben in Bayern 25 Jahre Vorlauf – was hat sich von den Befürchtungen der Kritiker im Nachhinein bewahrheitet?
Eigentlich gar nichts. Man sieht nach 25 Jahren, dass überall üppig neuer Wald nachwächst. Dort entsteht jetzt ein junger Wald, der sechs, acht, zehn Meter hoch ist.

Und die Trinkwasserqualität?
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass der Waldwandel auf das Trinkwasser keine Auswirkungen hatte. Im ersten Jahr nach dem Absterben ist zwar der Nitratgehalt geringfügig angestiegen. Man darf aber nicht vergessen, dass der Nitratgehalt in landwirtschaftlich genutzten Regionen viel, viel höher ist. Der Nitratgehalt ist bei uns sehr schnell wieder nach unten gegangen, war aber immer weit, weit unter dem Grenzwert.

Kritiker bezeichneten den Nationalpark Bayerischer Wald noch vor einigen Jahren als Waldfriedhof. Heute sprießen die Bäume; aus dem Friedhof ist ein Waldkindergarten geworden. Welche Auswirkungen hat das auf den Artenreichtum?
Die Tierwelt reagiert. Es ist so, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Manche Vogelarten, die geschlossene Wälder brauchen, sind seltener zu sehen. Andere, die eher auf dem Feld beheimatet sind, haben zugenommen. Es ist ein Prozess. Wir haben einige Urwald-Reliktkäfer, die wir wiedergefunden haben.

Glauben Sie, im Harz wird es ähnlich verlaufen?
Ich war das letzte Mal vor vier oder fünf Jahren im Harz, da war es noch richtig grün. Ich gehe davon aus, dass es sich ähnlich entwickelt. Unter dem Totholz wird sich ein junger Wald entwickeln. Wie der aussieht, hängt davon ab, wie sich das Klima entwickelt. Der Harz ist zwar nicht so hoch, aber weiter nördlich und dadurch kälter. Wir haben hier bei uns mittlerweile ein Drittel Laubbäume. Was für den jungen Wald günstig ist, ist wenn man die abgestorbenen Bäume liegen lässt.

Wenn man bedenkt, dass mehr als ein Menschenleben notwendig ist, um einen Baum groß werden zu sehen, ist die natürliche Walderneuerung nur schwer zu vermitteln. Wie hat man damals versucht, die Menschen auf diesem ungewohnten Weg mitzunehmen?
Wir haben unter unserem vorherigen Leiter viele Bürgerwanderungen gemacht und sind in den abgestorbenen Wald gegangen. Wir haben damals bei jedem jungen Baum, der nachgewachsen ist, ein Holzstäbchen hingesteckt. Mittlerweile sind die Bäume, die damals 20, 30 Zentimeter groß waren, und wo wir die Holzstäbchen hingesteckt haben, vier, fünf Meter hoch. Es ist alles wieder grün. Die alten Bäume sind umgebrochen, da stehen verwitterte Stümpfe herum. Darunter ist ein relativ geschlossener grüner Wald entstanden. Das hat über die Jahre hinweg viele unserer Skeptiker überzeugt.

Mit über 700 000 Besuchern pro Jahr ist der Nationalpark ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der strukturschwachen Region Bayerischer Wald. Gab es während der schlimmen Phase des Borkenkäferbefalls einen Rückgang der Besucherzahlen?
Nein, im Gegenteil. Es gibt nur einen ganz kleinen Anteil Touristen, die sagen, sie wollen nur grünen Wald sehen. Für die meisten Besucher war diese Entwicklung absolut spannend und einmalig. Man darf nicht vergessen: So etwas gab es bisher nicht in Deutschland. Viele Touristen suchen gerade den unberührten und unbewirtschafteten Wald.

Und ganz aktuell?
Wir hatten 1,4 Millionen Besucher 2019, so viele wie noch nie. Viele kommen ausschließlich oder überwiegend, weil es ein unberührter Nationalpark ist. 2020 werden wir ein Rekordjahr haben. Es ist Wahnsinn, was momentan los ist. Wenn schönes Wetter ist, werden wir überrollt von Mountainbikern und Wanderern.

Den ganzen Beitrag können Sie exklusiv im Volksstimme-E-Paper lesen.

Alle Beiträge unserer Serie "Wernigerode - auf dem Gipfel des Erfolgs?" finden Sie hier.