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Holocaust Der Mutter eine Stimme verliehen

Wolmirstedter Schüler haben mit einer Lesung an die Holocaust-Überlebende Mina Tomkiewicz erinnert. Ihr Sohn kam eigens aus New York.

20.08.2019, 23:01

Wolmirstedt l Einen besonderen Gast hatte das Wolmirstedter Kurfürst-Joachim-Friedrich-Gymnasium am Montagabend. Micha Tomkiewicz war aus New York angereist. Er traf sich mit der zehnten Klasse der Schule, und beantwortete ihre Fragen zum Holocaust. Am Abend hörte er dann in einer öffentlichen Lesung, wie die Jugendlichen aus der Autobiografie seiner Mutter, einer Holocaust-Überlebenden, vorlasen. Das Buch mt dem Titel „There was life even there“ (deutsch: „Es gab sogar dort Leben“), ist in englischer Sprache geschrieben und noch nicht auf deutsch erschienen. Die Schüler haben es selbst übersetzt und dann auf Deutsch vorgetragen.

Der Schulleiter des Gymnasiums, Carsten Koslowski, begrüßte unter anderem ehemalige Schüler, Stadtratsmitglieder, die Leiterin des Museums Anette Pilz und die gesamte Fachschaft Geschichte zu der Lesung. „Es ist ein generations-, sprach-, kultur- und nationsübergreifender Tag für uns“, sagte er, nachdem der Schulchor den Abend mit einem israelischen Lied eröffnet hatte.

Obwohl er die Texte aus dem Buch seiner Mutter auf Deutsch nicht verstand, rührten die Vorträge Micha Tomkiewicz zu Tränen. Zur Erklärung sagte er: „Ich bin so dankbar. Das erste Mal habe ich erfahren, dass meiner Mutter eine Stimme verliehen wurde“, erklärt der 80-Jährige. Gekommen war der Professor auf Einladung des Vereins „Der gestrandete Zug“.

Das wichtigste Ziel des Vereins sei es, das erklärte Karin Petersen, Geschichtslehrerin am Gymnasium und Gründerin des Vereins, den Opfern der nationalsozialistischen Diktatur ihren Namen, ihre Biographie und ihre Identität zurückzugeben. Die Veranstaltung mit Micha Tomkiewicz soll ebenfalls diesem Zweck dienen.

Denn die Autorin, Mina Tomkiewicz, und Micha Tomkiewicz selbst, saßen auch in dem „Gestrandeten Zug“, der dem Verein seinen Namen gab. Geboren wurde Micha Tomkiewicz in Warschau, heute lebt er in den USA. Der Zug, in dem er 1945 saß, fuhr vom Konzentrationslager Bergen Belsen als sogenannter „Räumungstransport“ nach Theresienstadt. Dort kam er nie an, denn amerikanische Truppen befreiten ihn und die Insassen kamen in ein Heereslager nach Hillersleben.

Gefunden hatte Ron Chaulet Micha Tomkiewicz. Er ist ebenfalls Amerikaner und fordert seit Jahren ein Mahnmal, das an die Überlebenden erinnert, die 1945 aus einem Räumungstransport nach Theresienstadt befreit wurden. Ein zufällig ersteigerter Brief der polnischen Überlebenden Gina Rappaport hatte den Hobbyhistoriker auf die Geschichte der Region aufmerksam gemacht. Das Schriftstück, das von den Kriegswirren und Zuständen im Warschauer Ghetto berichtet, kam aus Hillersleben. Gina Rappaport saß in dem „gestrandeten Zug“. Diese Geschichte hat er den Wolmirstedtern am Montagabend ebenfalls nahe gebracht.

Eine Besucherin der Lesung hatte Micha Tomkiewicz gefragt, wie gut er sich an die Ereignisse von damals erinnerte. „In Bildern, in Situationen“, hatte Micha Tomkiewicz geantwortet. Weil seine Mutter nicht mehr lebe, werde er bei Vorträgen über den Holocaust immer selbst nach seinen Erfahrungen, aber nie nach seiner Mutter gefragt. Und deshalb habe er es so gut gefunden, dass seiner Mutter, die die Geschehnisse als Erwachsene erlebt hatte, mit der Lesung Gehör verschafft wurde.

Zwei Schüler und zwei Schülerinnen lasen Auszüge aus dem Buch vor. Peter Karska begann mit Mina Tomkiewiczs Ankunft in Bergen-Belsen. Es sind Schilderungen des primitiven Lagerlebens, und von Schmerz und Angst, die die junge Mutter damals umtrieben. „Ich bin am Thema interessiert und habe bereits viel mit Zeitzeugen gesprochen“, erklärte Peter Karska. „Es sind sehr sensible und emotionale Inhalte“, fügte sein Klassenkamerad Fynn Luca hinzu, „aber wegen meines Interesses an historischen Themen ist mir das Verständnis leicht gefallen“.