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Landkreis Börde "Wir hatten wohl einen Schutzengel"

Vor 76 Jahren begann für 14 Millionen Menschen die Flucht aus Ostpreußen. Auch in Meitzendorf kamen zahlreiche Umsiedler an.

Von Sebastian Pötzsch 19.01.2021, 00:01

Meitzendorf l In Folge dessen kamen auch in Meitzendorf zahlreiche Umsiedler samt ihrer Angehörigen an. Für Mitglieder des Heimatvereins „Geschichtskreis Meitzendorf“ Anlass, an diese Zeit und die Menschen zu erinnern. Eine der Mitstreiterinnen, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit in ihrem Heimatdorf mahnen wollen, ist Margarete Berner. „Zu dem Thema ‚Vertreibung und Flucht’ hatten wir bereits am 8. Mai 2015 eine Gesprächsrunde, in der es um das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Herrschaft ging. Das hat für viele Menschen noch heute eine emotionale Bedeutung“, erzählt sie gegenüber der Volksstimme. Nun wollen sie und weitere Mitglieder des „Geschichtskreises“ die Erlebnisse nicht verdrängen, sondern würdigen, „was so viele Menschen seinerzeit durchstehen mussten.“

Zur Ausgangslage: Am 12. Januar 1945 griffen die Soldaten der Sowjetischen Armee die deutschen Siedlungsgebiete im Osten an. „Damit begann für bis zu 14 Millionen Menschen die Flucht“, berichtet Margarete Berner. Diese sei durch den seit dem 9. Januar einsetzenden Frost mit Temperaturen unter 20 Grad Minus erschwert worden. Außerdem waren die Jahre 1944 und 1945 durch die täglichen Bombenangriffe gekennzeichnet, Magdeburgs Innenstadt wurde am 16. Januar dem Erdboden gleichgemacht. „Am 30. April unterschrieb Hitler sein Testament und am 8. Mai erfolgte die offizielle Kapitulation des Deutschen Reiches“, erinnert die Meitzendorferin. Während dieser und der nachfolgenden Wirren erreichten Meitzendorf 9 Umsiedlertrecks mit insgesamt 32 Personen. „Darunter waren Familien mit bis zu sechs Kindern.“

In der Gesprächsrunde im Mai 2015 hatten Betroffene aus dem Ort ihre Fluchterlebnisse geschildert. „Besonders ergriffen waren wir von den Erlebnissen, die Irma Riebesel schilderte“, sagt Margarete Berner. Damals hatte sich Irma Riebesel erinnert, wie sie als Sechsjährige aus Ostpreußen fliehen musste. Ihre Schwester sei erst fünf Tage vor Beginn der Flucht auf die Welt gekommen. So reihte sich ihre Familie in einen Treck über das zugefrorene Haff ein, die Kinder durften sich auf den Leiterwagen des Nachbarn setzen. „Wir wurden oft von Tieffliegern beschossen, mussten runter springen, uns verstecken“, hatte Irma Riebesel berichtet. Sie habe Menschen gesehen, die in das Eis eingebrochen waren. „Wir hatten wohl einen Schutzengel.“ Doch der sei für die neugeborene Schwester nicht stark genug gewesen und das Baby schwer erkrankt. „Der Kinderwagen wurde stehen gelassen. Das war’s.“

Später seien sie nach Dänemark verschifft worden, irgendwann habe die Familie Meitzendorf erreicht. „Hier wurden wir unterstützt“, hatte die Seniorin weiter erzählt. 2005 reiste sie noch einmal ins ehemalige Ostpreußen. Da sei ihr bewusst geworden, wie gut ihr Leben verlaufen war. „Es ist ein großes Glück, dass wir in Meitzendorf gelandet sind“, resümierte Irma Riebesel im Herbst 2015.

Unter dessen erinnert sich Margarete Berner auch an die Berichte von Martin Gawert. Seine Familie sei mit neun Geschwistern auf der Flucht gewesen, als sie in Meitzendorf ankamen. „Es gab gesprengte Brücken, Staus. Einmal sind wir den ganzen Tag lang im Kreis gefahren“, hatte Martin Gawert während des Gesprächskreises berichtet. Er und seine Angehörigen hätten gesehen, wie Tote im Schnee verscharrt wurden. Bilder von „Flüchtlingstrecks, wohin das Auge reichte“, hätten sich ins Gedächtnis eingebrannt. Sie hätten erfahren müssen, dass es lebensrettend sein kann, in der Mitte des großen Zugs zu gehen, weil die außen ziehenden Menschen mitunter erschossen, in Flüsse oder von Felsen gestoßen worden seien.

Manche waren sechs Monate unterwegs, bevor sie im Sommer 1945 Meitzendorf erreichten. Hier hätten sie freundliche Menschen gefunden, die sie mit Kleidung und Verpflegung unterstützten. Jedoch seien sie auch als „Pollacken“ beschimpft worden.

Wie Albert Riemke hatte auch Martin Gawert von der Bodenreform 1945 berichtet. „Güter mit einer Gesamtfläche von mehr als 100 Hektar wurden enteignet und in Neubauernstellen umgewandelt. Das betraf auch den Bauernhof Oehlmann“, erzählt Margarete Berner (Volksstimme berichtete). In dem Wohnhaus mit Stallanlage, der heutigen Heimatstube, ist eine Neubauernwirtschaft eingerichtet worden. Die Einrichtung von Neubauernstellen diente der Integration von Vertriebenen und der Durchsetzung sozialistischer Reformen.

Jeder Neubauer erhielt laut Margarete Berner sieben Hektar Ackerland, einen halben Hektar Wald, ein Pferd, zwei Kühe und ein bis zwei Schweine. Zudem sei jede Neubauernstelle vom Staat mit einem Abgabesoll für landwirtschaftliche Erzeugnisse belegt worden. „Weil einige Neubauern aus anderen Berufen kamen, waren die Ergebnisse spärlich. So gab es oft Probleme mit der Versorgung der eigenen Familie.“ Mit den Maschinen-Traktoren-Stationen und später mit den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sei vieles geregelt gewesen, „wobei viele für die LPG das Vorbild in den Kolchosen in Russland sahen“, sagt das Geschichtskreismitglied.

Auch an die Ausführungen der Vereinsvorsitzenden Bärbel Kriege sowie von Siegfried Kartig, Klaus Fassig, Wolfgang Gaebel, Maria Grzesik, Ernst Hadrich und Klaus Küster will Margarete Berner erinnern. Deren Geschichten ähnelten den bereits erzählten. Alle hatten Tieffliegerbeschuss, tagelanges Bahnfahren in Güterwaggons, Hunger und mühsames Gehen im Schnee bei eisigen Temperaturen überlebt. Mitunter sei die Orientierung verloren gegangen.

„Alle Berichte haben wir aufbewahrt und wollen auf diesem Wege noch einmal daran erinnern“, schließt Margarete Berner ihre Ausführungen.