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Schulstunde Osama erzählt von seiner Flucht

In der Gutenberg- und in der Leibniz-Schule hörten die Schüler von der Flucht ihres 15-jährigen Klassenkameraden aus Syrien.

Von Gudrun Billowie 03.11.2015, 00:01

Wolmirstedt l Osama ist 15 und besucht seit wenigen Wochen die Leibniz-Sekundarschule. Er hat sanfte Augen, tiefschwarzes Haar und spricht wenig deutsch. Sein Englisch ist umso besser, auch wenn das keineswegs seine Muttersprache ist. Osama ist aus Syrien hierher gekommen, zu Fuß, per Boot und er hat im Gefängnis gesessen. Vier Wochen dauerte seine Flucht. Die Familie hat dafür bezahlt, dass Osama die Chance bekommt, seinen Traum zu erfüllen. Er möchte Arzt werden.

Osama erzählt seiner Klasse davon. Seine Geschichte wurde in ein Projekt eingebettet, das über Rollenspiele Wege aus Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit zeigt und Schülern durch Ermutigung ein positives Bild von sich selbst vermittelt.

Für dieses Projekt engagierte die Gutenberg-Schule das Team von „Creative Change - Jugend kann die Welt bewegen“. Die Projektmitarbeiter sind in Hessen zu Hause, haben selbst einen Migrationshintergrund und schon im vergangenen Jahr in der Gutenberg-Schule gearbeitet. „Unsere Schüler waren so begeistert, dass wir die Gruppe auch in diesem Jahr wieder an unserer Schule haben wollten“, sagt Schulleiter Helmut Thiel. Da diese Schule mit der Leibniz-Schule kooperiert, hat das Team von „Creative Change“ auch dort mit der achten Klasse gearbeitet. Und in diese Klasse gehört Osama.

Osama war einverstanden, vor und von seiner Klasse und der Klasse der Gutenberg-Schule interviewt zu werden. Er erzählte seine Geschichte, die zu den unzähligen Fernsehbildern passt, die derzeit gezeigt werden. „Über Osamas Geschichte können wir Verständnis für Flüchtlinge wecken“, hofft Projektleiter Pedram Alexander Aghdassi.

Osama ist in Syrien losgegangen, mit einer Gruppe von 20 Menschen, zu denen auch Kinder gehörten. Sie sind in die Türkei gelaufen, haben das Land bis zur Mittelmeerküste durchquert. Dann folgte der gefährlichste Teil der Reise, die Fahrt über das Mittelmeer in einem überfüllten Boot. 50 Personen hätten darin gesessen, immer wieder sei Wasser in das Boot geschwappt, Osama habe um sein Leben gefürchtet. Aber sie erreichten die Küste.

Weiter ging es zu Fuß und per Eisenbahn bis nach Serbien, mit dem Bus bis nach Ungarn, dort habe er vier Nächte im Gefängnis verbringen müssen, bis die Gruppe weiter nach Budapest gebracht wurde. Von dort fuhren sie mit dem Auto nach Österreich und überquerten schließlich die Grenze nach Deutschland. Unterwegs haben sie in günstigen Hotels oder im Freien geschlafen, auf einigen Streckenabschnitten hätten Überfälle gedroht, aber Osama hatte Glück. Seine Gruppe kam unversehrt an.

Stück für Stück hatte Dana-Rosé Anari von „Creative Change“ die Geschichte vom Englischen ins Deutsche übersetzt und immer wieder blieb Raum für die Fragen der Schüler. „Hast du selbst geglaubt, dass du ankommst“, wollte Chris wissen. Osama schüttelt den Kopf. „Nein.“ Andere wollten wissen, wie er sich fühlte, als er seinen Fuß auf deutschen Boden gesetzt hatte. Die einfache Antwort heißt: „Glücklich.“

Doch trotz seines Schicksals ist Osama ein Junge, wie so viele seines Alters. Seine erste Handlung war ein Besuch bei MCDonalds, er mag Computerspiele und Fußball. Nur auf die Frage, was er sich wünsche, reagierte er anders als viele. Er sagte: „Nichts. Ich möchte lernen.“ In der Schule sei es bis auf die Sprache so wie in Syrien.

Projektleiter Pedram Alexander Aghdassi wagt auch die schwierigen Fragen, die Fragen nach dem Zuhause und der Familie Osamas. So erfuhren die Schüler, dass ihr Klassenkamerad aus der Nähe von Aleppo stammt, die Stadt zerbombt sei und auch das Haus seiner Familie nicht mehr steht. Er habe jeden Tag gesehen, wie Bomben geworfen wurden und hat seinen besten Freund bei einem Bombenangriff verloren. Osamas Eltern sind Lehrer, arbeiten dürfen sie nicht mehr. Zu seiner Familie hat er Kontakt und er möchte auch wieder nach Syrien, aber er fühlt sich hier derzeit am sichersten.

Warum die Familie gerade den 15-jährigen auf die Flucht geschickt habe, erklärt Osama damit, dass Kinder nur sehr selten zurückgeschickt werden und eine Chance auf die Zukunft hätten.

Derzeit lebt er im heilpädagogischen Zentrum „Don Bosco“ zusammen mit anderen Jugendlichen. Sein Vormund ist ein Mitarbeiter des Jugendamtes.

Seine Klassenkameraden folgten den Schilderungen, mucksmäuschenstill. „Ich finde es traurig, dass Osama fliehen musste“, sagt Colin Freimuth im Anschluss. „Ich könnte mir niemals vorstellen, so lange zu gehen“, sagt Niklas Gadau. Und noch etwas war für einige Schüler neu, nämlich dass das Geld, das Flüchtlinge in Deutschland bekommen, unter dem Satz von Hartz IV liegt.

Das Interview mit Osama war im Rahmen des Projektes nicht vorgesehen, die Projektmitarbeiter wussten im Vorfeld nicht, dass es ihn gibt. „Es ist schön, dass sie die aktuellen Bedingungen vor Ort mit einbeziehen“, sagt Frauke Held, Sozialarbeiterin der Gutenberg-Schule.

Doch auch den eigentlichen Projektfahrplan verloren Pedram Alexander Aghdassi und seine Mitstreiter nicht aus den Augen. „Viele Schüler wissen nicht, wie sie auf Fremdenfeindlichkeit reagieren sollen“, hat er beobachtet. Deshalb hat das Projektteam zusammen mit den Schülern Szenen erarbeitet, in denen die Schüler selbst Argumente finden. So spielten sie beispielsweise, wie eine Tochter ihren Eltern beibringen möchte, dass sie einen Freund hat, der aus dem Iran stammt. In einer anderen Szene möchte ein ausländischer Jugendlicher in einem Fußballteam mitmachen, scheitert aber am Trainer. Gegen diese Widerstände setzen die Schüler Argumente, bestehen darauf, dass es eine Chance geben muss, einander kennenzulernen. „Ich habe meinen Eltern jeden Tag von dem Projekt erzählt“, sagt ein Mädchen, „inzwischen hätte meine Mama nicht mehr soviel dagegen, wenn ich mit ausländischen Jugendlichen Kontakt hätte.“