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Transsexualität Endlich raus aus dem „Gefängnis“

Menschen ändern sich im Laufe des Lebens. Manchmal wird aus einer Frau ein Mann: Karin Türling aus Wolmirstedt wird zu Karlo Türling.

Von Gudrun Billowie 24.11.2018, 00:01

Wolmirstedt l Noch ist es eine Zwischenwelt. Karin Türling steht im Ausweis, und das wird erst einmal so bleiben, noch mindestens ein dreiviertel Jahr lang. Im Innern sieht die Sache anders aus: „Ich bin ein Mann, bin Karlo Türling. Und um jeden Menschen froh, der Herr Türling zu mir sagt.“

Deshalb bleiben wir dabei. Die Sache mit dem Ausweis-Namen wird an anderer Stelle geklärt, hier geht es um den Menschen, um Karlo Türling. Und dieser Karlo Türling ist Gemeindereferent der katholischen St.-Josefs-Kirche in der Kleinstadt Wolmirstedt.

Herr Türling kümmert sich um Gottesdienste, die Josef-Singers, die Kindergruppe, die Sternsingeraktion, hat Religionsunterricht in der Schule gegeben, lädt geflüchtete Menschen in den Gemeinderaum ein, damit sie Gelegenheit haben, mit anderen Gemeindegliedern deutsch zu sprechen. Viele glauben, Karin Türling zu kennen, nun dürfen sie sich neu anfreunden, mit Karlo Türling.

Die Veränderung wird erlebbar sein, denn Karlo Türling wird bleiben in der Kleinstadt, nicht wegziehen, wie so viele Transsexuelle, wenn sie endlich außen der Mensch werden, der sie im Innern schon immer gewesen sind. „Ich werde den Pfarrer auf keinen Fall alleine lassen“, sagt Karlo Türling.

Als Haushälterin fing Karin Türling vor 25 Jahren bei Pfarrer Peter Zülicke an. „Damit begann das Ende von Karin.“ Der Pfarrer habe die Mauern durchbrochen, aus denen Karin Türling schon längst nicht mehr herausgekommen war. „Er hat mir klar gemacht, dass ich wertvoll bin als Mensch.“

Das war Karin Türling lange nicht bewusst. In einem kleinen Altmark-Ort geboren, vor 55 Jahren, war für Selbstfindung kein Platz, für große Umbrüche schon gar nicht. Für Aufsehen sorgte bereits, als sie sich mit 14 Jahren zum katholischen Glauben bekannte, ein ungewöhnlicher Schritt, den mancher Lehrer in der sozialistischen Schulwelt mit Schikanen beantwortete.

Schwieriger war noch, dass auf Karin Türling das Etikett „weiblich“ klebte und niemand sah, dass es nicht passte. Als die Pubertät kam, fühlte sich das heranwachsende Mädchen längst eingemauert, war nach innen emigriert, beschreibt die Ungewissheit so: „Das Leben klappert und knirscht, es ist ein andauerndes Wundscheuern.“

Trotzdem: Karin Türling wusste selbst nicht, welches Etikett das Richtige gewesen wäre. Transsexualität wurde damals weder im Fernsehen noch in Zeitungen thematisiert. Es gab in der Welt der 1970er und 1980er Jahre einfach kein Wort für das vage Gefühl, dass außen und innen nicht zusammengehören. Klar war nur: „Ich habe mich nie als Mädchen oder als Frau gefühlt. Ich mochte mich nie im Spiegel anschauen. Das, was ich sah, war einfach nicht ich. Ich habe als Neutrum existiert.“

Die jungen Frauen in der Umgebung kleideten sich weiblich, flirteten, heirateten, bekamen Kinder. Nach solcher Art zu leben hat sich Karin Türling nie gesehnt. „Zum Glück hatte ich als Haushälterin eines katholischen Pfarrers das Privileg, nicht heiraten zu müssen.“ Auch später, als Gemeindereferentin, stellte sich diese Frage nicht zwingend.

Irgendwann habe sich Karin Türling in eine Frau verliebt. Daraus wurde keine Beziehung, aber Karin Türling bekam eine Ahnung davon, wer sie tatsächlich sein könnte, spürte, dass Frausein nicht ihre Option ist. „Doch noch immer wusste ich nicht, dass es Transsexualität überhaupt gibt.“

Der Knoten platzte zu Beginn des Jahres. Die Biografie eines Transsexuellen öffnete ihr die Augen, Karin Türling hat erkannt: „Ich bin als Mann in einem Frauenkörper zur Welt gekommen.“ Der Moment glich einer Erleuchtung. „Ich habe es meiner Freundin erzählt, die war nicht überrascht.“

Sie stattete ihrer Hausärztin einen Besuch ab. „Die hatte es schon immer geahnt.“ Sie fragte die Krankenkasse: Was soll ich jetzt machen? Die Krankenkasse zeigte den Weg auf, der führte zuerst zum Psychologen, um das Ziel zu besprechen und auf das vorzubereiten, was unterwegs, auf dem Weg von Frau Türling zu Herrn Türling, alles passieren kann. Das Ziel war schnell klar definiert und bekam sofort den Namen: Karlo.

Der Erkenntnis folgte eine Phase der Euphorie. „Ich war gespannt, wie ein Flitzebogen.“ Doch Dauereuphorie hält keiner aus, sie ist verflogen und tiefer Zufriedenheit gewichen. „Ich fühle mich jetzt in mir wohl, habe endlich das Gefühl, mit mir selber leben zu können.“ Karlo Türling hat Karin einfach vor die Tür gesetzt.

Die Hormontherapie beginnt erst in einigen Monaten und bringt äußerliche und Wesensveränderungen mit sich. Es heißt, der Weg von der Frau zum Mann gleiche einer Pubertät, Stimmungsschwankungen inklusive. Karlo Türling freut sich darauf, endlich er selbst zu werden, besonders auf die andere, die männliche Stimme, strahlt: „Vielleicht werde ich ja ein schöner Tenor.“ Singen ist ein wichtiger Teil des Türling-Lebens, schon jetzt, ebenso wie das Trompetenspiel. Die Musik gibt Halt, auch in schwierigen Zeiten. „Die Trompete hat mich gut durch die vergangenen Monate begleitet.“

Karlo Türling fühlt sich endlich gut, jenseits der Mauern, wie befreit aus dem Gefängnis und seither erträgt er es so schwer, noch immer mit „Frau Türling“ angesprochen zu werden. „Das ist so, als müsste ich zurück in das Gefängnis, und Sie glauben gar nicht, wie dunkel es darin sein kann.“

Dennoch: Manche Mitmenschen in der Stadt oder der Kirchengemeinde, im Bekannten- und Freundeskreis werden wohl einige Zeit brauchen, den Mann kennenzulernen, besonders während des Übergangs, solange, bis das Innere des Karlo Türling auch außen offensichtlich ist.

Das geht für den Herrn Türling in Ordnung, er hilft einfach ein bisschen nach, trägt maskuline Kleidung. „Ich habe mir sogar schon einen Anzug gekauft.“ Er mag einfach nicht mehr warten, nicht länger die Frau mimen, die er nie wirklich gewesen ist. „Ich bin 55 Jahre alt, ich habe keine Zeit zu verlieren.“

Fragen beantwortet Karlo Türling übrigens gern. Und optimistische Reaktionen gibt es schon jetzt: „Mein Bruder hat gesagt, dann können wir ja endlich mal eine Kneipentour machen.“ Und Pfarrer Peter Zülicke? „Der lehrt mich gerade, Krawatten zu binden.“