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Alphabetisierungskurs Geburtstag ist ein schweres Wort

Zehn Jahre gibt es die Alphabetisierungsgruppe der Zerbster Kreisvolkshochschule nun. Ein Grund zum Feiern.

Von Sebastian Siebert 09.09.2015, 15:58

Zerbst l Die Geschichten der „Alphas“ gehen zu Herzen. Es sind die Geschichten vom großen Glück, das in kleinen Dingen zu finden ist. Und sie handeln davon, dass am Ende alles gut werden kann. So verdrückten sich die meisten der anwesenden Gäste im Versammlungsraum der Kreisvolkshochschule eine Träne, als eine der „Alphas“ in einer Fernsehaufzeichnung mit vor Rührung zittriger Stimme sagte, dass sie nun ihrem Kind in der Schule helfen könne und alle dazu ermutige, sich bei Leseproblemen in der Kreisvolkshochschule zu melden.

Seit zehn Jahren gibt es den Alphabetisierungskurs in der Kreisvolkshochschule nun. Das feierten die Mitglieder der Gruppe, die „Alphas“ genannt werden, sowie die Mitarbeiter der Kreisvolkshochschule am Montag mit einem kleinen Empfang. Marlies Haase, die langjährige Leiterin der Gruppe, sagte: „Ich habe immer gern unterrichtet und so kam es, dass ich vor zehn Jahren diese besondere Herausforderung annahm.“ Dabei habe sie tolle Menschen kennengelernt.

„Lebenslanges Lernen – das kennt jeder irgendwie. Aber als Erwachsener die Grundbildung richtig und neu zu lernen, ist nicht so einfach“, sagte Marlies Haase. Erwachsene brauchen länger als Kinder.

Damals – vor zehn Jahren – sei man noch davon ausgegangenen, dass vier Millionen Menschen in der Bundesrepublik eine strukturelle Leseschwäche haben. „Heute geht man von 7,5 Millionen Menschen aus, die nicht richtig lesen und schreiben können“, erzählte sie weiter. Sie können nicht ihre Anträge ausfüllen, keinen Bus fahren, nicht in den Zoo gehen. „Das ist erschreckend“, sagte sie. „Ich habe Riesenglück mit den Sponsoren hier in Zerbst“, betonte die Leiterin. Ohne die finanzielle Unterstützung der Firmen und anderen Förderer wäre es nicht möglich gewesen, denn der Kurs war ursprünglich nur für ein halbes Jahr, also ein Semester, konzipiert. 20 sind es nun geworden.

Geld wurde unter anderem für die Unterrichtsmaterialien benötigt, aber auch für Reisen und Ausflüge. Eng arbeitet die Gruppe mit dem Museum der Stadt zusammen. Dass Leiterin Agnes Almuth-Griesbach im Publikum saß, ist Ehrensache.

Für jedes Mitglied schreibe die Gruppe regelmäßig Geburtstagskarten, berichtete Marlies Haase. „Sie glauben gar nicht, was für eine schweres Wort ‚Geburtstag‘ ist“, sagte die Lehrerin.

Dann lasen die acht Gruppenmitglieder Gedichte vor. „Dass sie überhaupt vor Publikum auftreten können, ist auch ein Ergebnis dieses Kurses“, erzählte die Leiterin. Denn in den Mitgliedern ist Selbstbewusstsein gewachsen. Am Anfang hätten sie sich nicht getraut, vor einer Gruppe fremder Menschen überhaupt zu reden, geschweige denn, etwas vorzulesen.

Die ständigen Ausreden, die Brille vergessen zu haben und die Schrift sei zu klein, auf andere angewiesen zu sein, ist eine große Belastung für die Psyche, erzählten die Mitglieder. Umso stolzer macht es sie, dass Problem angegangen zu sein. „Die Gruppe bedeutet mir sehr viel“, sagte Peter Friedrich, der seit Anfang an dabei ist. „Ich habe in den zehn Jahren hier sehr, sehr viel gelernt.“ Sein neuestes Projekt: der Umgang mit dem Smartphone. Ein Handy hat er bereits. Das Lesen und Schreiben von Sms und Chat-Nachrichten übt der Zerbster nun. Vor drei oder vier Jahren, sagte er, habe er seine erste E-Mail geschrieben.

Zum Jubiläum gratulierte auch der Leiter des Trägers IKW (Institut für kulturelle Weiterbildung), Dr. Torsten Hentschel, und die Stellvertreterin, Dr. Katja Münchow. Sie eröffneten zudem eine Fotoausstellung, die nun in den Fluren des Gebäudes zu sehen ist.