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Heimatgeschichte Frühjahr 1945: Die Operation Toast

Herbert Witte hat über das Geschehen in der Region Anhalt-Zerbst am Ende des 2. Weltkrieges ein Buch geschrieben.

Von Daniela Apel 08.05.2020, 06:00

Wertlau/Jena l „Ich verabscheue Krieg“, betont Herbert Witte. Dennoch befasste er sich genau mit diesem Thema. Vor allem das Schicksal seines Vaters veranlasste ihn letztlich zu äußerst weitgehenden Recherchen, die ihn wahrlich zwischen die Fronten führten. Anhand bislang nicht ausgewerteter Dokumente aus russischen und amerikanischen Archiven rekonstruierte er das Geschehen in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 in der Region Anhalt-Zerbst, zu der er eine persönliche Verbindung hat.

Herbert Witte wurde zwar 1952 in Roßlau geboren, wuchs allerdings in Wertlau auf und legte später in Zerbst das Abitur ab, bevor er eine Hochschullaufbahn als Biomedizintechniker und Medizininformatiker in Jena einschlagen sollte. Im November 2017 ging er in den Ruhestand, um sich intensiver seinen außerberuflichen Hobbys zu widmen. „Ich wollte noch das machen, was ich gern mache“, berichtet er lächelnd von seinem Interesse für Geschichte.

„Mein Vater kämpfte als Soldat an der Ostfront“, schildert Herbert Witte. Schwerstverwundet sollte er aus Schlesien heimkehren – eine Hand verstümmelt, ein Unterschenkel amputiert. „Er hat nie was erzählt, aber da schwelte immer was“, blickt Herbert Witte zurück. Dafür verrieten die Briefe etwas, die sein Vater damals an seine Eltern schrieb und die erhalten blieben im Gegensatz zu den Briefen der Eltern, die im Lazarett angeblich verschwanden.

Die in Sütterlin verfassten Zeilen weckten Herbert Wittes Neugier für die damaligen Ereignisse an der Elbe. „Aus den Antworten meines Vaters konnte ich entnehmen, dass in Wertlau Panzersperren gebaut wurden“, nennt er ein Beispiel. Er erfuhr auch, dass sein Großvater beim Volkssturm gewesen ist, aber nicht zum Einsatz kam.

„Meine Großeltern erzählten mir immer über die ‚Russen‘, nur einmal erwähnten sie eine Patrouille der Amerikaner. Zumindest konnte ich daraus entnehmen, dass Amerikaner und ,Russen‘ in unserer Region waren“, sagt Herbert Witte. Zugleich stieß er auf einige Ungereimtheiten. „Besonders stutzig machte mich, dass die Rote Armee am 1. Mai 1945 in Roßlau einmarschierte und erst am 6. Mai in Zerbst.“ Was steckte dahinter?

Herbert Witte vertiefte sich in die Briefe, arbeitete ihren Inhalt auf und ordnete das Gelesene zeitlich ein. Heraus kam ein Buch über seinen Vater. „Das habe ich aber nur für die Familie geschrieben“, holt er das ausgedruckte Werk hervor, in dem sich bereits ein Kapitel über jene letzten Apriltage findet, die in der nun erschienenen Publikation mündeten, „da so viel offen geblieben ist“, wie Herbert Witte begründet.

Also recherchierte er weiter und nahm zunächst Kontakt zu Autoren auf, die über das Kriegsgeschehen in der Region bereits geschrieben haben wie Heinz Ulrich („Die Infanterie-Division Scharnhorst“), Udo Pfleghar („Brückenkopf Zerbst“) oder Claus Blumstengel („Zerbst im April 1945“). Auch beim Förderverein für das Militärhistorische Museum Anhalt erhielt er Unterstützung bei der Suche nach Quellenmaterial.

Neben wertvollen Dokumenten und Fotos, die ihm zur Verfügung gestellt wurden, entstand ein Netz von neuen Kontakten, auch zu heute noch lebenden Zeitzeugen, die ihm ihre Erinnerungen schilderten und halfen, Fakten ein- und Personen zuzuordnen. Herbert Witte tauchte ein in überlieferte Tagebücher und Aufzeichnungen von Menschen, die ihre damaligen Erlebnisse schriftlich festhielten.

Und er stöberte in Archiven. Im russischen Internet-Portal „pamyat-naroda“ fand er nicht nur die Kriegstagebücher der sowjetischen Einheiten, die an der mitteldeutschen Ostfront kämpften. Er entdeckte ebenfalls Generalstabskarten der Roten Armee. „Ich war sprachlos über deren Qualität“, sagt Herbert Witte.

Auch in den USA recherchierte er. Aus dem Nationalarchiv von Washington D.C. erhielt er originale, ungeschnittene Filmaufnahmen und mit den so genannten Unit-Journals die von den beteiligten amerikanischen Kompanien verfassten Meldungen.

„Ich habe Tausende von Einzeldokumenten“, sagt Herbert Witte. Er ist stolz auf seine umfangreiche Materialsammlung – darunter Quellen, die bislang noch niemand analysiert hat, und die er allesamt einem Puzzle gleich zu einem historischen Ganzen zusammensetzte. „Ich kann das zeitliche Raster bis auf die Minute, mitunter sogar Sekunde, herunterbrechen und schauen, wo ist wer wann gewesen“, verdeutlicht er. Ein Aufwand, der sich auf sein Projekt auswirken sollte.

So entwickelte sich aus dem ursprünglich nur geplanten Kapitel ein am Ende über 180-seitiges Buch, das kürzlich in der Digitalen Bibliothek Thüringen erschienen ist. Weltweit kann es online von jedem kostenlos gelesen und heruntergeladen werden. Für Herbert Witte stellt diese Form der Veröffentlichung „einen Segen“ dar. Neben dem Lektorat durch einen Historiker bleiben vor allem die von ihm bearbeiteten sowjetischen Generalstabskarten auf diese Weise in ihrer einzigartigen Qualität erhalten. „Die wollte ich nicht aufgeben“, sagt Herbert Witte. Einen auszugsweisen Abdruck plant das Militärhistorische Museum Anhalt in seinen regelmäßig erscheinenden Broschüren.

Jeder, der lieber ein gebundenes Werk in Händen hält, statt am Bildschirm zu lesen, kann sich „Zwei Tage im April“ ausdrucken und sich gemeinsam mit der 9. US-Armee auf die Operation „Toast“ begeben. Deren Ziel bestand darin, Kontakt zu den sowjetischen Verbänden der 1. Ukrainischen Front aufzunehmen. Durchgeführt wurde die Operation von der 125. Kavallerie-Aufklärungsschwadron, die der 83. US-Infanterie-Division („Thunderbolt“) unterstellt war. Jene hatte am 13. April 1945 die Elbe überquert und den Brückenkopf Barby/Walternienburg errichtet. Nun sollte es von Zerbst aus über Roßlau weiter in Richtung Coswig gehen und die Truppe schließlich bis nach Apollensdorf führen. Dort gerieten die US-Soldaten zunächst unter sowjetischen Beschuss, obwohl sie die als Erkennungssignal vereinbarten grünen Leuchtraketen abgefeuert hatten, bevor endlich das ersehnte Treffen zustande kam.

Dieses Vortasten bis zum tatsächlichen Aufeinandertreffen am 30. April 1945 bescherrte Herbert Witte die „überraschendste Erkenntnis“ und zwar jene, dass die US-Soldaten losgezogen sind, um die sowjetischen Streitkräfte zu treffen, ohne genau zu wissen, wo sich diese befanden. Dabei hatte es bekanntlich bereits am 25. April 1945 den historisch bedeutenden ersten Händedruck zwischen Einheiten der US-Truppen und der Roten Armee in der Nähe von Torgau gegeben. „Neben militärischen Gründen, den Brückenkopf zu übergeben, spielten wohl auch Prestigfragen eine Rolle“, vermutet er hinsichtlich der Kriegsberichterstatter, Reporter und Kameramänner, die die 83. US-Infanteriedivision begleiteten.

Das „Faszinierendste“, das sich aus den Recherchen für Herbert Witte ergab, sind die vielen verschiedenen Lebenswege, die sich „in unserer Gegend“ gekreuzt haben. Einige der Menschen, die sich damals begegneten, lässt er im Buch zu Wort kommen. An andere Schicksale – an Tragödien zwischen den Fronten – erinnert er.

Inzwischen steckt Herbert Witte bereits mitten in der Recherche für sein nächstes Buch. „Helle Funken in schwarzer Nacht“ soll es heißen und Menschen vorstellen, die sich am Ende des Zweiten Weltkrieges durch humanitäre Handlungen ausgezeichnet haben. Auch über die Kriegsgefangenenlager in Altengrabow und Luckenwalde möchte er noch schreiben. Ein weiteres Buch könnte sich ausführlich um Zerbst drehen, um die Stadt, die am 28. April 1945 kampflos von den Amerikanern eingenommen wurde und als Ausgangspunkt für die Operation „Toast“ diente.

Seit die US-Truppen den Brückenkopf Barby/Walternienburg eingerichtet hatten, war Zerbst zu einer Stadt direkt hinter der Front geworden und bildete einen wichtigen Teil des Rückgrats der 12. Armee („Armee Wenck“), Hitlers letzter Hoffnung, die einen Großangriff auf die amerikanischen Stellungen plante. Herbert Witte stellt deshalb in Frage, ob eine Kapitulation vor dem Hintergrund überhaupt möglich gewesen wäre, um die Bombardierung am 16. April 1945 abzuwenden. Mit einer solchen Entscheidung wäre der Standortkommandant Oberst Paul Koenzgen den deutschen Soldaten in den Rücken gefallen und „möglicherweise standrechtlich erschossen und umgehend durch einen anderen Offizier ersetzt worden“, vermutet der Autor in „Zwei Tage im April“.

Die Übergabe der Stadt an die Rote Armee erfolgte wie schon erwähnt am 6. Mai 1945. Bereits am Tag zuvor waren vier sowjetische Soldaten nach Zerbst aufgebrochen, um sich von Neugier getrieben die heimatliche Domäne Katharinas II. anzuschauen. Was sie bei ihrem Ausflug erlebten, schildert Oberst Viktor K. Rykow von der 3. Division der 142. Artilleriebrigade der 33. Armee der 1. Weißrussischen Front – nachzulesen in der Anlage des faktenreichen und mit vielen berührenden Erlebnisberichten gespickten Buches von Herbert Witte.