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Historie Foto weckt düstere Erinnerungen

Die Teilnehmer am Heimaträtsel erkannten die Breite Straße in Zerbst sofort. Einige Geschichten der Leser waren erschütternd.

Von Thomas Kirchner 29.10.2017, 07:00

Zerbst l Die gute Nachricht gleich vorweg: Alle Anrufer und Email-Schreiber lagen in dieser Woche goldrichtig mit ihrer Lösung zum Heimatfoto-rätsel. Es ist natürlich die Breite Straße, die hier aus Richtung Markt mit Blick zum Dornburger Platz zu sehen ist. Einige Anrufer hatten bewegende und erschütternde Geschichten zu erzählen.

„Wir haben Am Plan gewohnt und ich kenne die Breite Straße ziemlich gut“, sagt Lisa Winetzka. Gleich vorne sei die Buchhandlung Gast zu sehen. Dann seien da noch die Schlosserei Partheil und die Brauerei Pfannenberg gewesen. Außerdem waren dort viele kleine jüdische Geschäfte. „Ich erinnere mich noch gut an die Männer mit den großen schwarzen Hüten, die vor den Geschäften standen und sich unterhielten“, berichtet sie. Eines Tages jedoch seien sie alle weg gewesen. „Keine hat gefragt und niemand hat etwas gesagt. Man hatte sie wohl abgeholt oder sie waren geflüchtet“, erzählt Lisa Winetzka.

Die Brauerei Pfannenberg hatte einen großen Gewölbekeller, wo die Zerbster bei Luftangriffen Schutz suchten. „Auch wir wollten bei einem Angriff in den Keller“, berichtet Winetzka, „ wurden jedoch abgewiesen. Es war kein Platz mehr, der Keller war voll. Kurze Zeit später mussten wir mit ansehen, wie alle, die im Keller Schutz gesucht hatten, tot geboren wurden.“ Es war alles eingestürzt und die Menschen seien wohl erstickt. Auch gegenüber in der Gastwirtschaft „Erbprinzen“, wo ein Lazarett eingerichtet war, erging es den Menschen ähnlich. „Man fand die Soldaten mit Krankenschwester Traudchen Lehmann untergehakt. Alle waren tot“, ist Lisa Winetzka noch immer erschüttert.

Auch Ruth Tschersich erzählt eine ähnliche Geschichte, von Schutzsuchenden, eingestürzten Kellern und unzähligen Menschen, die umgekommen sind. „Wir mussten als Kinder – ich war zwölf Jahre alt – mit ansehen, wie die vielen Toten geborgen worden“, erinnert auch sie sich an die schrecklichen Ereignisse im April 1945. „Ich habe die Zeitung aufgeschlagen, das Bild gesehen und sofort sah ich die erschütternden Bilder wieder vor mir“, erzählt Ruth Tschersich. „Straße der Trauer“, habe man die Breite Straße damals genannt. Kein Stein habe mehr auf dem anderen gestanden. Alleine in der Breiten Straße sollen mindestens 300 Menschen umgekommen sein. „Viele Zerbster, Passanten, die während der Bergung der Toten vorbeigekommen waren, sind stehen geblieben, haben inne gehalten und der Toten gedacht“, erinnert sich die Dame. Und immer wieder muss sie ihre Erzählungen kurz unterbrechen. Ihre Stimme zittert. „Wissen Sie, ich musste überlegen ob ich anrufe und Ihnen das alles berichten soll, aber irgendwann ist ja keiner mehr da, der die Geschichten erzählen kann“, sagt Ruth Tschersich tief bewegt. Das alles mache sie auch heute noch sehr traurig.

„Das heutige Foto zeigt die Breite Straße in Zerbst. Die Buchhandlung Gast war das Eckhaus zum Markt. Im Hintergrund links sieht man noch ein paar alte Häuser, die heute noch erhalten sind“, schreibt Lothar Platte aus Schora in seiner Email. „Zur Zeit werde die Schmiede ‚Hettstädt‘ (Breite Straße 47) abgerissen. Meine Oma war Jahrgang 1900. Sie kannte die Breite Straße bestens“, berichtet er weiter. Damals sei man mit Pferd und Wagen nach Zerbst gefahren um Einkäufe und andere Wege zu erledigen. „Im Gasthof und Fleischerei Rätzel (auch im Hintergrund links) wurde ausgespannt und anständig gefrühstückt“, weiß Platte.

In dieser Straße habe sich auch der Metallwarenhandel Partheil, in der Nähe auch Fahrrad Müller befunden. „Als ich ab 1960 in Zerbst zur Schule ging, war diese Straße so nicht mehr zu erkennen. Ich bin zwei Jahre lang mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. An der Markt-ecke, ehemals Buchhandlung Gast, hatte Heinrich Thiele seinen Imbiss. Auf dem Heimweg war hier immer ein Halt Muss“, erinnert sich Lothar Platte.

Auch Angela Braune, Gisela Thiem, Harald Neupert, Helmut Lehmann und Birgit Hartmann erkannten die Breite Straße. Für alle war die Buchhandlung Gast die Orientierung.

Als letzte Anruferin meldete sich Hannelore Seidler, Inhaberin der Buchhandlung Gast in der Fritz Brandt Straße in der Redaktion. „Ich habe mich riesig gefreut, als ich das alte Foto heute in der Volksstimme gesehen habe“, ist die Buchhändlerin ganz aufgelöst. Eine wunderschöne Aufnahme sei es, nur schade, das nichts mehr davon steht.

Die Buchhandlung Gast ist die älteste, noch bestehende Buchhandlung in Zerbst, und auch die einzige, die es in unserer Stadt noch gibt. Sie wurde im vergangenen Jahr stolze 150 Jahre alt. Am 12. Juni 1865 eröffnete der Zerbster Buchhändler Hermann Zeidler auf der Neuen Brücke eine Buchhandlung. Aus Platzmangel zieht er nach einigen Jahren auf den Markt 21 um.

Die Geschäftsräume werden auch hier nach kurzer Zeit erneut zu eng. Deshalb kauft Zeidler das schöne, alte Fachwerkhaus Ecke Markt/Breite Straße für seine Buchhandlung. 1882 trifft den jungen Geschäftsmann Friedrich Gast ein harter Schicksalsschlag. Seine Buchhandlung fällt einem Brand zum Opfer. Nach dem Wiederaufbau präsentiert sich das Haus den Zerbstern so, wie wir es bis 1945 kennen. 1945 zerstört, zieht die Buchhandlung um in die jetzige Fritz Brandt Straße, wo Hannelore Seidler sie noch immer betreibt.

Der Gewinner in dieser Woche ist Lothar Platte aus Schora. Wir haben uns entschlossen, heute zwei weitere, sagen wir Sonderpreise zu vergeben. Auch Lisa Winetzka und Ruth Tschersich können sich je einen kleinen Preis in der Redaktion (Alte Brücke 45) abholen. Mit diesen kleinen Preisen möchten wir uns bei den beiden Damen bedanken, dass sie uns und den Lesern, auch wenn es sicher nicht leicht war, ihre erschütternden Geschichten erzählt haben.