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Landgericht Mann soll von Tat erzählt haben

Der dritte Verhandlungstag des Prozesses über die Vorfälle am Zerbster Bahnhof vom 30. Juni fand in Dessau statt.

Von Andreas Behling 14.01.2017, 01:33

Dessau/Zerbst l Der schwer Verletzte fand sich zunächst in der Rolle eines Beschuldigten wieder. Gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr, so lautete der Vorwurf.

Doch in der Vernehmung stellte sich sehr schnell heraus: Der 34 Jahre alte Mann aus Pakistan rannte am 30. Juni vorigen Jahres im Zerbster Bahnhof nicht mutwillig vor einen nächtlichen Zug, sondern wollte sich als Opfer einer Gewalttat in höchster Not in Sicherheit bringen. Das gelang ihm in buchstäblich letzter Sekunde. Der massive Puffer der Lok, der ihn an der rechten Schulter treffend, warf ihn aus dem Gleisbett.

Nun müssen sich zwei Männer aus Dessau - 20 und 23 Jahre alt - vor der 2. Großen Jugendkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau wegen Beleidigung, gefährlicher Körperverletzung und versuchten Mordes verantworten. Gestern fand unter dem Vorsitz von Uda Schmidt der dritte Verhandlungstag statt, der von Kriminalrat Markus Loichen im Zeugenstand beschlossen wurde. Loichen führte die erste Vernehmung des Pakistaners durch und stellte bald fest: „Die Geschichte drehte sich. Der Mann war nicht durch eigenes Verschulden auf die Schienen gelangt.“

Die Ermittlungen ergaben, dass der Geschädigte von den Angeklagten ganz bewusst im Gleisbett zurückgelassen wurde, obwohl er sich wegen der erlittenen Attacken in einem benommenen Zustand befand. Der Kriminalist berichtete zudem, dass „die Sache zum Staatsschutz ging“, weil Fremdenfeindlichkeit als Tatmotiv anzunehmen war. Laut Loichen habe das Opfer von einem gemeinschaftlich handelnden Duo berichtet, von dem es in Richtung Stellwerk getrieben worden sei. „Er erzählte mir, dass er sich nur mit Mühe aufrichten konnte, als der Zug in Richtung Magdeburg anfuhr. Dann vollzog er im letzten Moment eine Ausweichbewegung und der Puffer drückte ihn aus dem Schienenbett.“

Ein dritter Mann, der vom Pakistaner gesehen worden war, habe sich lediglich an den bedrohlichen Beschimpfungen („Scheiß-Ausländer! Du nimmst uns unsere Arbeitsplätze weg!“) beteiligt. Eine junge Frau mit einem kleinen Hund, die zur Gruppe gehörte, sei auf dem anderen Bahnsteig geblieben. „Für mich klang folgerichtig, was er sagte“, meinte der Zeuge. „Er wirkte fast traurig und frustriert, dass ihm hier so viel Hass begegnete.“

Markus Loichen erinnerte sich auch, dass dem Pakistaner, der nach einem Tritt in die Gleise fiel, wohl der Satz hinterhergeschickt wurde: „Na, dann lass‘ dich doch vom Zug überfahren.“ So habe es wohl wirklich vom Zufall abgehangen, ob er von der Lok erfasst wurde oder nicht. Die Ermittlungen hätten aber nicht zum Ergebnis geführt, dass das Opfer - womöglich noch in besonderer Haltung - auf die Gleise gelegt wurde.

Zuvor hatte eine 36 Jahre alte Dessauerin erkennbar Mühe, ihrer Aussage Klarheit und Struktur zu geben. Fortwährend drehte sie nervös eine Kordel ihres Kapuzenshirts in den Fingern.

Dabei war sie an dem damaligen Geschehen gar nicht unmittelbar beteiligt, sondern hatte davon erfahren, weil der Freund ihrer Tochter den jüngeren Angeklagten kannte und diesen mit zu einem sommerlichen Umtrunk auf den Hof gebracht hatte.

Als dann ausreichend Bier geflossen war, um die Zunge zu lösen, sei es plötzlich aus dem jungen Mann herausgebrochen, dass er und sein Kumpel, dessen Namen er nicht nannte, in Zerbst einen Ausländer schlugen und traten und auf den Gleisen liegen ließen. „Mir kam es vor, als ob er sich verquatschte“, meinte die Zeugin.

Auf die Frage von Staatsanwalt Jörg Blasczyk, ob der Angeklagte den Vorfall nachträglich bedauerte oder bereute, schüttelte sie den Kopf. Durch ein Nicken erhielt hingegen Opfer-Anwalt Felix Isensee („Manchmal ist es schwer zu glauben, was Menschen tun können.“) von ihr die Bestätigung, dass sie noch nie zuvor bei Gericht aussagen musste und niemanden in Schwierigkeiten bringen wolle. Der 20-Jährige sei ihr „eigentlich sympathisch und nett“ erschienen.

Sie habe ihn „nie aggressiv erlebt“ und gewusst, dass er unter Bewährung stand. Bei einem Treffen kurz vor seiner Verhaftung habe er bekannt, dass die Geschichte in Zerbst „wohl zu krass“ gewesen sei. Warum er sich überhaupt auf eine solche Aktion einließ, das habe sie ihn nicht gefragt, räumte sie ein.

Der Prozess wird am kommenden Mittwoch fortgesetzt.