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Lost Place Wenn Wände erzählen könnten...

Das einstige Pflegeheim in Wertlau lockt Abenteurer als Lost Place an. Die Ruinen zeugen von einer spannenden Vergangenheit.

Von Daniela Apel 07.08.2020, 06:00

Wertlau l „Hier geht’s lang“, sagt Diethardt Schümann und läuft voran. Ein schmaler Trampelpfad führt durch das Wäldchen. Sonnenstrahlen brechen sich durch die Baumkronen. Zwischen Jütrichau und Wertlau gelegen verbirgt der idyllische Flecken mehrere Gebäude mit wechselvoller Geschichte. Die noch vorhandene Wegeinfassung weist die Richtung hin zu steinernen Ruinen, die einst mit so viel Leben erfüllt waren.

Inzwischen fristen die seit geraumer Zeit leer stehenden Bauwerke ein „kümmerliches Dasein“, wie der Zerbster findet. Scheinen völlig in Vergessenheit geraten zu sein, obwohl sie eine so interessante Vergangenheit haben. Ein „Lost Place“ fernab der Stadt mitten im Grünen, den Diethardt Schümann mit seinem Enkel erkundete, der auf der Suche nach außergewöhnlichen, verlassenen Orten durch ganz Deutschland reist.

Nun steht der Zerbster erneut vor dem langgestreckten, flachen Haupthaus. Durch das Säulenportal betritt er den sonst eher schlichten Betonbau. Schutt knirscht unter den Schuhsohlen. Abgebröckelter Putz, Teile der Decke und Tapetenreste liegen auf dem Boden. Türen sind herausgehebelt, Kamine zerschlagen, Rohe abgerissen und sämtliche Fensterscheiben zerstört. Das trostlose Bild setzt sich im Gebäude gegenüber mit seinen beiden Sälen fort.

Bei all dem Verfall und Vandalismus lässt sich die bewegte Historie des Ortes kaum mehr erahnen. Diese nahm 1941 ihren Anfang. Damals ließen die Hugo-Junkers-Flugzeugwerke hier zunächst mehrere Baracken errichten als Ausweichquartier zum Dessauer Stammwerk. Sollte jenes bombardiert werden, sollte das Projektierungsbüro bei Wertlau sicher weiter arbeiten können. „Da die Anlage als ,kriegswichtige‘ Einrichtung galt, war sie mit Flak-Stellungen und einem umfangreichen System von Luftschutz-Deckungsgräben gesichert“, hat Diethardt Schümann recherchiert.

„Ab 1945 erfolgte die Nutzung als Quarantänelager für Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer“, erzählt der Zerbster weiter. Ab 1950 wandelten dann Ärzte und Schwestern durch die lichtdurchfluteten Räume, als die frühere Junkers-Außenstelle Standort für ein Tuberkulose-Hilfskrankenhaus wurde.

Eben jenes Krankenhaus spiele im Roman „Der Bär“ des Zerbster Schriftstellers Manfred Bieler eine gewichtige Rolle, „weil in dessen Umfeld zahlreiche Handlungen beschrieben werden“, schildert Diethardt Schümann. So hilft die Hauptperson des Buches – der gelernte Zimmermann und spätere Bürgermeister und Landrat Hermann Donath – seinem Freund Lothar Witte, die für Zwangsarbeiter errichteten Baracken in Wertlau zu einer Lungenheilanstalt umzubauen.

„Nach der Errichtung der heute noch sichtbaren massiven Gebäude begann schließlich die Nachnutzung als Pflegeheim“, berichtet Diethardt Schümann. 1995 erfolgte jedoch die Schließung des Objekts und der Umzug der Senioreneinrichtung nach Zerbst. Im Auftrag des damaligen Landkreises Anhalt-Zerbst war in der Rolandstadt das Haus Am Frauentor als Ersatzbau entstanden.

Unterdessen verwaisten die Flure der im Wertlauer Wäldchen befindlichen Gebäude. Die einzelnen Objekte fielen in einen bis heute andauernden Dornröschenschlaf. Es ist ein wahrlich verwunschener Ort, für den es wohl keine Zukunft mehr gibt. Zu groß ist inzwischen die Zerstörung, zu abgelegen scheinen die Bauten mit ihrer so vielfältigen Geschichte. Zumindest im Werk von Manfred Bieler lebt die Erinnerung fort, wenn irgendwann von den steinernen Zeugen nichts mehr übrig sein sollte.