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Tradition Die Kluft ist eine Sozialversicherung

Wandergesellin Anna hat in Zerbst Stopp gemacht und angeheuert. Warum sie auf Walz gegangen ist , lesen Sie hier.

Von Arlette Krickau 23.01.2018, 05:00

Zerbst l Baustrahler erhellen den Gemeinderaum im Pfarrhaus von St. Bartholomäi. Auf den Tischen liegen viele augenscheinlich sehr alte Bücher. Ruhig und gelassen sitzt eine Person mit schwarzem Hut da, weit nach vorn gebeugt und langsam werkelnd an einem der Bücher.

Es ist Anna. Sie ist auf der Walz und hat für diese Zeit ihren Nachnamen abgelegt. Als Ersatz für diesen dient die Wortgruppe fremde, freireisende Buchbinderin. „In dieser Zeit definieren wir uns mehr über unseren Beruf als darüber, wo wir herkommen“, erklärt sie.

Nach drei Jahren Lehre in Bremen hatte die gebürtige Dresdnerin ihren Gesellenbrief als Buchbinderin in der Hand. Dann entschloss sie sich auf Walz zu gehen. „Ich hatte Lust auf Neues, auf kleine und große Abenteuer, eine 800-jährige Tradition selbst zu leben und meinen Beruf in so vielen Facetten kennenzulernen, wie es nur geht“, erklärt sie mit einem Lächeln ihre Beweggründe. Und fügt an: „Und wann nimmt man sich nochmal so viel Zeit Land und Leute so intensiv kennen zu lernen?“

Seit mehr als einem Jahr ist sie auf Wanderschaft. In der typischen Kluft: Schwarze Schlaghose, Weste, weißes Hemd und schwarzer Hut. „Das ist unsere Sozialversicherung sagen wir immer“, erklärt sie und lacht, meint das aber sehr ernst. „Die meisten kennen diese Kluft und wissen, dass wir auf der Walz sind. Wenn wir dann Unterkunft suchen oder ähnliches, wissen die Leute Bescheid. Einige sprechen uns auch von allein an und bieten uns ein Bett für die Nacht an.“ Denn in der Kluft und auf Walz sind sie auf andere Menschen angewiesen, denn sie geben kein Geld aus fürs Reisen. „Wir fahren per Anhalter oder laufen.“ Auch die Unterkünfte sollten nichts kosten.

„Damit wir immer wieder Menschen finden, die uns aufnehmen, gibt es einen Verhaltenskodex: Immer so benehmen, dass der Nächste auch willkommen ist. Denn als Geselle auf Walz steht man nicht für sich allein, sondern für alle Kameraden.“

Auch Handys sind bei einer Walz nicht vorgesehen. „Aber die meisten von uns haben eine Email-Adresse. Und den Rechner eines anderen zu benutzen, um Emails zu checken, ist nicht untersagt. So können wir uns gut verständigen und auch mal verabreden“, verrät sie.

„Immer so benehmen, dass der Nächste auch willkommen ist“

Und so reist Anna durch die Lande – seit einem Jahr und drei Monaten. Zuletzt war sie in der Schweiz. Als kleines Andenken hat sie den Dialekt behalten. Seit einer Woche ist sie nun in Zerbst und nimmt kleinere Reparaturen und Stabilisierungsarbeiten an den alten Büchern des Kirchenarchives vor. Das es hier so etwas gibt, den Tipp gaben ihr andere Gesellen, die vor etwa einem Jahr Johannes Lemke kennenlernten.

Wohin es als nächstes geht, das kann sie nicht sagen. „Das nächste Ziel, das findet sich immer anders. Vielleicht wollte ich da schon immer mal hin, oder ich habe von einem guten Buchbinder dort gehört, bei dem ich arbeiten möchte, oder ich bin verabredet. Es gibt viele Gründe an einen Ort zu reisen“, sagt sie. Fest steht nur, dass Gesellen auf der Walz eigentlich nicht länger als drei Monate an einem Ort verweilen.

„Es gibt den Spruch: Wenn die Bäckersfrau grüßt und der Hund nicht mehr bellt, ist es Zeit zu gehen.“ Daran hält sich auch Anna.