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Urgestein Verwurzelt mit den Bühnenbrettern

Helmut Szulczynski seit 50 Jahren bei den Komparsen des Anhaltischen Theaters Dessau.

Von Andreas Behling 10.12.2015, 13:11

Dessau l Manchmal sind die Frauen eben doch schuld! Ohne seine bessere Hälfte Dagmar - das darf als gesichert gelten - hätte es Helmut Szulczynski nicht in die Reihen der Komparsen des Anhaltischen Theaters verschlagen. Inzwischen ist er mit den Brettern, welche ja angeblich die Welt bedeuten sollen, ganz eng verwurzelt: Der Dessauer atmet die Bühnenluft seit einem halben Jahrhundert in kräftigen Zügen ein.

Wie es dazu kam, hat Szulczynski noch klar vor Augen. Es war 1965, als er – von der Armee auf Heimaturlaub geschickt - von seiner Dagmar im Mantel empfangen wurde. „Wie ich aus einem ihrer Briefe wusste, war sie selbst für die Statisterie und den Extrachor angeworben worden. Und nun stand sie doch tatsächlich startbereit in der Tür und wollte zur Vorstellung. Das konnte ich natürlich nicht so einfach zulassen. Kurz entschlossen bestimmte ich: Ich komme mit“, erinnert er sich lebhaft.

Bereut hat der 73-Jährige diese spontane Entscheidung niemals. Zumal er als Mitglied der jungen Gemeinde in der Weihnachtszeit an dem einen oder anderen Krippenspiel teilgenommen hatte. „Das Hineintauchen in eine Rolle machte mir schon da viel Spaß“, erzählt er, seine Premiere auf der Dessauer Bühne in Shakespeares „Othello“ feiernd. Martialisch gewandet in Kettenhemd und Kettenhose. Seither ist Helmut Szulczynski in ungezählte Kostüme und unter manche Perücke geschlüpft. Erst lag der Schwerpunkt auf dem Musiktheater. Dann kam mehr und mehr das Schauspiel hinzu.

„Es gab mal einen Monat, da hatte ich an 19 von 30 Tagen im Theater zu tun. Das war dann kein Hobby mehr, sondern echte Arbeit“, schmunzelt der passionierte Komparse, für den mancher Auftritt bis heute unvergessen ist. So wurde er zum Beispiel für Verdis „Nabucco“ als Meuchelmörder eingeteilt, der den Oberpriester des Baal zu erdolchen hatte. „Da musste ich schon aufpassen, bei Kammersänger Rainer Büsching rechtzeitig zuzustechen, damit er nicht so lange den letzten Ton halten musste.“

Szenen, die reizvoll sind, weil sie nicht in den Bewegungen von Massen untergehen. Noch immer spürbar am Herzen liegt Helmut Szulczynski daher seine Rolle als Diener des Grafen Gustav von Pottenstein, einer Figur aus Franz Lehárs romantischer Operette „Das Land des Lächelns“. Da war er in vielen kleinen Aktionen zu erleben und musste nahezu dauernd Bühnenpräsenz zeigen. „Sogar als Raucher, obwohl ich vorher keine Zigarette angefasst hatte.“ Zugleich bekam er einen tieferen Einblick ins Leben eines Solisten. „In einer achtwöchigen Probenzeit lassen die auch ganz schön Federn“, hat er festgestellt.

Mehr als nur Federn hat Helmut Szulczynski freilich vor ein paar Jahren gelassen, als er auf einer beinahe stockfinsteren Bühne auf einem knapp vier Meter hohen Podest stand, unwillkürlich einen Schritt zur Seite machte – und plötzlich keinen festen Boden mehr unter den Füßen besaß. „Den Sturz bekam ich – wahrscheinlich zum Glück – gar nicht mit. Erst unten wachte ich wieder auf. Irgendwann hörte ich Stimmen und sah zwei Rettungssanitäter in ihren roten Jacken.“

Rückblickend ist Szulczynski, der wegen der erlittenen doppelten Beckenfraktur und siebenfachen Unterarmbruchs – um nur die ernsthafteren Verletzungen zu erwähnen – ein Vierteljahr im Klinikum zubrachte, fest davon überzeugt, dass ihm „bestimmt sieben Schutzengel“ zur Seite standen. Künftig nun aber größere Höhen zu meiden, kam für Szulczynski überhaupt nicht in Frage: „Als jemand auf ein Gerüst sollte, das auf der Vorbühne errichtet worden war, ging zuerst mein Finger nach oben.“

Heute – „als älteres Semster“ – hat der gestandene Kleindarsteller keine Probleme, mancherlei Aufgaben jüngeren Kollegen zu überlassen. Seit ungefähr vier Jahren ist er verstärkt als Beleuchtungskomparse aktiv. „Wenn die Lichtstimmungen für einzelne Szenen eines Stücks eingerichtet werden, kann es durchaus passieren, dass man als einzelner Mensch auf der Bühne mal den gesamten Chor darstellt.“ Außerdem hilft er hin und wieder seiner Tochter Maren, die das Ankleidewesen Herren und Damen leitet. „Da werde ich zu einzelnen Stücken geholt“, merkt er an. Und vergisst nicht zu erwähnen, dass ab 1977 die ganze Familie für etliche Jahre am Haus beschäftigt war. „Maren war schon einige Jahre in der Komparserie, als ihre Schwester Frauke als Engel in Humperdincks ,Hänsel und Gretel‘ ebenfalls eingestiegen ist.“

Der unbestrittene Höhepunkt seiner (vorerst) 50-jährigen Karriere brannte sich dem enthusiastischen Senior, dessen Frau bis 1997 insgesamt 33 Jahre in Statisterie und Extrachor mitwirkte, kurz nach der Jahrtausendwende unauslöschlich ins Gedächtnis ein. Im Herbst 2001 zählte Helmut Szulczynski zu den gut 200 Mitgliedern der Theater-Crew, die unter der Stabführung von Golo Berg und der Regie des Generalintendanten Johannes Felsenstein mit den Opern „Der fliegende Holländer“ (Richard Wagner) und „Salome“ (Richard Strauss) einen mehrwöchigen Abstecher nach Japan bestritten. „Wer hätte davon zu träumen gewagt! Das ist selbstverständlich absolut unglaublich und wie eine Auszeichnung gewesen. Besser ging es nicht“, blickt der Komparse aus Leidenschaft auf die Zeit im Land der aufgehenden Sonne zurück. Und so es der eng gestrickte Zeitplan des Gastspiels erlaubte – die Opern wussten in Tokyo, Nagoya, Kyoto und Fukuoka zu begeistern –, fing auch das Ensemble-Mitglied Szulczynski mit seiner Videokamera Land und Leute ein.

„Beeindruckend, ja bewundernswert war neben den vielen Stationen der Tour aber auch, mit welcher Logistik die Transporte von Menschen und Technik verbunden waren. Das war schlichtweg eine Meisterleistung“, findet er. Manchmal nimmt sich Helmut Szulczynski die Zeit, eine der Kassetten anzuschauen. Häufig genug stehen aber andere Dinge auf dem Programm. Dann bricht er in Richtung Friedensplatz auf, um für die Kunst – und das Publikum – seinen Mann zu stehen.