1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Zerbst
  6. >
  7. Rike zieht in die Welt

Wandergesellen Rike zieht in die Welt

Es ist eines der letzten großen Abenteuer: die Wanderung der Handwerksgesellen. Für „Rike“ war Zerbst eine ihrer ersten Stationen.

Von Sebastian Siebert 24.02.2017, 06:10

Zerbst l Es eint sie die Kluft, die Tradition und die Ferne zur Heimat: Wandergesellen. Am Mittwoch hatten sich gleich 18 von ihnen im Zerbster Rathaus angemeldet, eine unüblich große Gruppe der nicht selten allein reisenden Handwerksgesellen. Grund für die Ansammlung der „zünftigen Gesellen“ ist Rike. Die junge Frau, die wie alle anderen ihren Nachnamen nicht verrät und ebenso kein Handy besitzt, hat sich gerade erst auf Wanderschaft begeben.

Und dabei helfen ihr jene, die schon länger unterwegs sind. Nicht weniger als drei Jahre soll die Reise dauern, niemals näher als 50 Kilometer soll Rike währenddessen in die Nähe ihres Heimatortes kommen. Bannkreis nennt sich das. Den dürfen die Gesellen weder im Winter noch zu Weihnachten betreten. Und um Rike auf „die Sprünge zu helfen“, wie die Gesellen sagen, trafen sie sich am Montag alle in Magdeburg, Rikes Heimatort. Von dort aus führen sie die Tischlergesellin aus ihrem Bannkreis heraus – und passieren dabei Zerbst.

Warum sie das mache, habe viele Gründe, erzählt die junge Frau. „Ich kann in verschiedenen Firmen, Betrieben und auf Baustellen arbeiten und das ist natürlich ein Erfahrungsschatz, den ich so in der normalen Arbeitswelt nicht zusammenkriegen würde“, sagt sie. Die Welt sei schließlich groß. „Es gibt viele Betriebe, überall sind die Techniken anders“, fügt sie an.

Zwischen einem Tag und drei Monaten halten sich die Gesellen auf Wanderschaft an einem Ort auf, so sei die Faustformel, erzählt „Rike, die fremde, freie Tischlerin“, wie sie sich von nun an vorstellt.

Das Arbeiten komme jedoch erst einmal später. „Jetzt geht es darum, mich erst einmal aus meinem Bannkreis hinauszubegleiten, damit ich gut in die Ferne komme“, erzählt sie weiter. Die Gesellen, die sie an diesem Tag begleiten, „helfen mir auf die Sprünge.“

Bislang hat Rike eine Station in Schönebeck gemacht. „Dort sieht man sich natürlich gerne Sachen an, besucht kulturelle Plätze und Gebäude. Man will ja auch was sehen“, berichtet sie weiter.

Neben ihr steht Verena. Sie ist eine der Helferinnen für Rike und ihr ist Zerbst nicht fremd. Vor einigen Monaten war sie in der Nuthestadt zum Steintreffen. Im August 2014 haben Steinmetze am Schloss beim Steintreffen ein Geländer wieder aufgebaut. Verena war dabei. Wie kommt es also, dass sie Rike auf die Sprünge hilft? Wie organisieren sie sich? Denn alle Wandersleute haben kein Handy. „Ich habe Rike in München kennengelernt. Nachdem wir uns ein paar Mal gesehen haben, hat sie mich gefragt, ob ich sie losbringe“, erzählt Verena. Dann habe sie die anderen Wandergesellen dazu eingeladen. Mündlich. „Ich habe mich mit ihnen unterhalten“, sagt sie und lacht. Ort und Zeit wurden vereinbart. „Und das klappt. Es kamen nicht alle, aber andere sind dafür gekommen“, erzählt sie weiter. Der Buschfunk funktioniere. So kommt es auch, dass es 15 Gesellen sind und nicht 18, wie angekündigt. Rund 500 seien auf Wanderschaft, erzählt sie. Dreieinhalb Jahre dauere ihre Reise nun schon.

Drei Jahre sei lediglich die Mindestreisezeit. Und sie habe viel gesehen. „Ich war europaweit unterwegs.“ Am schönsten fand Verena es, „da, wo die tollen Menschen sind.“ Spanien sei ganz schön gewesen, Dänemark auch. „Und Leipzig.“ Und Zerbst war auch gut, fügt sie lächelnd an.

Das ist noch ein langer Weg für Rike. Sie wünscht sich aber auch, interkontinental zu reisen. „Die Welt sehen“, wie sie sagt. Exotische Länder würden sie reizen. „Aber so genau gucke ich da noch nicht drauf. Erstmal muss es losgehen“, fügt sie an.

Der wichtigste Rat, den Verena für ihre junge Gesellenschwester hat: „Alles auf sich zukommen lassen, nicht zu viele Pläne machen. Es kommt immer ganz anders.“

Finanziert werde die Reise durch die Arbeit, die sie unterwegs verrichten können. „Wir werden nach dem ortsüblichen Tarif und Lohn bezahlt“, sagt sie. Problemlos sei das allerdings nicht. „Man kann auch mal Monate nach Arbeit suchen“, berichtet Verena weiter. „Man muss halt gucken, wie man weiter kommt. Wenn wir nicht arbeiten, sind wir auf das Sozialvermögen unserer Mitmenschen angewiesen“, sagt sie noch. Das heißt, man sei darauf angewiesen, dass man eingeladen werde. „Wir brauchen ja nur vier Wände. Man kann auf dem Boden schlafen“, sagt sie. Mehr brauche man nicht.

So anpruchslos die Gesellen bei ihrer Unterkunft sind, so einen hohen Anspruch haben sie an ihre Ehrbarkeit. Denn der nächste soll wieder empfangen werden. Und obwohl sie freimütig heraus erzählen, warum sie auf Wanderschaft sind und wie das ist und sich gern auch für ein Zeitungsfoto positionieren, haben sie Geheimnisse, die sie hüten und die kein anderer erfahren wird. Der „Schnack“, den sie zum Gruß an den Bürgermeister richten – in diesem Fall an seine Sekretärin Elke Borchers, denn Bürgermeister Andreas Dittmann ist in dieser Woche nicht im Rathaus – , wollen sie nirgendwo abgedruckt sehen. Ihr Heiligstes, das Wanderbuch, das jeder von ihnen besitzt, darf nicht fotografiert werden. Nur Elke Borchers erhascht einen kurzen Blick in die Bücher, weil sie muss. Die Wandergesellen bitten sie nämlich um den Stempel der Stadt für ihre Bücher.

Als Beweise, dass sie dort waren und als ewige Erinnerung. Zahlreiche andere Dinge bleiben auch in der Gemeinschaft der Wandergesellen. „Es gibt viele Sachen, die sind auch einfach nicht aufgeschrieben. Deswegen bin ich jetzt auch mit Rike unterwegs, um ihr alles beizubringen“, sagt Verena. Es solle keine Nachahmer geben, „die unseren Ruf in den Dreck ziehen.“ Einige Wochen, einige Monate werde sie Rike begleiten. „Je nachdem, wie schnell sie lernt“, sagt Verena und schmunzelt.

Dann ziehen sie von dannen. Rikes Bannkreis endet hinter Dessau. Wohin es geht? „Mal sehen“, sagt sie.