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Konzert in Berlin Arcade Fire: Perfekter Spagat zwischen Chaos und Kontrolle

Wohl kein anderes Popalbum wird dieses Jahr mit so großer Spannung erwartet wie "Everything Now" von Arcade Fire. Ein mitreißendes Konzert in Berlin liefert den vielversprechenden Vorgeschmack.

Von Werner Herpell, dpa 03.07.2017, 10:24

Berlin (dpa) - Ja, er klingt wie die großen ABBA-Hits der 70er, dieser unwiderstehliche Ohrwurm "Everything Now". Die kanadische Band Arcade Fire platziert die supereingängige, für manche ältere Fans aber arg leichtgewichtige erste Single aus dem kommenden Album gleich an den Anfang ihres Berliner Konzerts.

Und es funktioniert. Sofort gibt es für die meisten der etwa 17 000 Besucher in der ausverkauften Köpenicker Open-Air-Bühne Wuhlheide am Sonntagabend kein Halten mehr, die allgemeine Glückseligkeit ist mit Händen zu greifen. Wieder einmal springt die enorme Spielfreude und schiere melodische Überwältigungskraft der zehnköpfigen Live-Truppe um Sänger Win Butler und seine Ehefrau Régine Chassagne sofort über.

Arcade Fire haben zwar einen weiten Weg hinter sich - gerade auch stilistisch, seit David Bowie sie angeblich noch vor ihrem grandios düsteren Artrock-Debüt "Funeral" (2004) entdeckte. Aber auf der Bühne sind sie, selbst wenn die Songs glatter geworden sind, immer noch diese wuselige, wild durcheinander tobende, Hymnen schmetternde, supernett-chaotische Kumpel-Band aus Montreal. Gitarren, Bass, zwei Drumsets, Trommeln, Orgel und Klavier, Vibrafon, Geige, Akkordeon und Stimmen, Stimmen, Stimmen - ein herrlicher, ausgelassener Lärm.

In Berlin legen Arcade Fire ihren letzten Deutschland-Zwischenstopp ein, bevor am 28. Juli beim traditionsreichen Großlabel Columbia das ebenfalls "Everything Now" ("Alles jetzt") betitelte fünfte Album erscheint. Die Platte wird gehütet wie ein Staatsgeheimnis, Journalisten müssen zu Listening-Sessions der Plattenfirma anrücken. Viel Kontrolle für eine Band, die immer noch gern Chaos verkörpert.

Drei neue Lieder wurden zuletzt in kurzer Folge schon veröffentlicht: neben dem Titelsong noch "Creature Comfort" und "Signs Of Life". Diese perfekten Pop-Tracks zeigen auch im Konzert, dass Arcade Fire inzwischen eine Stadionband sind, für die die Wuhlheide-Location eigentlich zu klein ist. Und dass der bisweilen sperrige Indierock, der selbst noch das meisterhafte zweite Album "Neon Bible" (2007) prägte, längst hinter ihnen liegt.

Die Band steht jedoch konsequent zu ihren nicht unumstrittenen Entwicklungsschritten und präsentiert live einen Querschnitt durch ihre bisherige Karriere - zwischen Gospel, Folkrock und Funk ist alles dabei. Auch das dem Mainstream angenäherte Album "The Suburbs" (2010) und der Elektro-Sound von "Reflektor" (2013) werden gewürdigt.

Vor den beeindruckenden Videobildern im Bühnenhintergrund bauen Arcade Fire genau jene wuchtige "Wall of Sound", für die sie schon immer berühmt waren. Besonders schön passen Musik und Optik zusammen, als es an diesem lauen Sommerabend endlich dunkel wird. Am Ende, nach rund 100 Minuten mit vielen Höhepunkten und Dankeschöns ans Publikum, sagt der charismatische Frontmann Win Butler: Jetzt sei leider Schluss, sonst werde man der Band wohl den Stecker ziehen. Ganz leise verlassen die erschöpften Musiker zu den Klängen des sanften Songs "Neon Bible" die Bühne.

Selbst Skeptiker dürften nach diesem mitreißenden Konzert etwas beruhigter sein. Wenn schon Pop in Reinkultur, dann klingt er im Bestfall wie Arcade Fire mit ABBA-Anleihen. Erst recht im Konzert - da entfalten die Kanadier ihre ganze Größe und Pracht.

Website Arcade Fire