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Streit um Tempelberg Der Fluch des heiligen Felsens

19.04.2014, 01:17

Jerusalem | US-Außenminister John Kerry ist nicht der erste Politiker, der sich vergeblich für Frieden im Nahen Osten einsetzt. Viele vor ihm sind gescheitert - weil Palästina für Juden und Muslime heilig ist und sie Jerusalem als spirituelles Zentrum nicht teilen wollen.

Die Sonne ist an diesem Mittwoch um sieben Uhr noch nicht ganz über den Hügeln von Jerusalem aufgegangen, da drängen sich schon dutzende Reisegruppen aus aller Welt in einer gut 80 Meter langen Schlange vor dem Marokkaner-Tor bei der Klagemauer. Dort hindurch geht es zu dem Plateau, das für gleich drei Weltreligionen zu den heiligsten Orten überhaupt zählt: dem Tempelberg. Und weil zehn der insgesamt elf Tore allein den Muslimen vorbehalten sind, müssen Christen und Andersgläubige anstehen und warten, bis Sicherheitskräfte die Flügeltüren des Marokkaner-Tores öffnen - tagtäglich, um Punkt 7.30 Uhr.

An diesem Morgen liegt jedoch - wie so oft in den vergangenen Wochen - Ärger in der Luft. Eine Gruppe von nationalreligiösen Juden, etwa 20 Männer im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, hat sich vor dem Eingang des Marokkaner-Tores versammelt. Auch sie wollen zusammen mit den amerikanischen und europäischen Touristen den Tempelberg betreten - damit allerdings gezielt ein Tabu brechen. Denn seit hunderten von Jahren gilt: Juden beten an der Klagemauer unterhalb des Plateaus, Muslime beten auf dem Plateau.

Tabu-Bruch mit blutigen Folgen

Es handelt sich dabei um ein ungeschriebenes Gesetz, das die Juden bis auf wenige Ausnahmen stets eingehalten haben - auch um blutige Konflikte mit den Palästinensern zu vermeiden. Und dass es schnell zu Blutvergießen kommen kann, wenn ein Jude den Tempelberg betritt, zeigt die Vergangenheit. Der Rundgang des früheren israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon auf dem heiligen Plateau im Jahr 2000 gab den Palästinensern den Anlass, eine zweite Intifada gegen die Israelis zu führen. Der blutige Bürgerkrieg mit Straßenschlachten und Selbstmordanschlägen forderte hunderte Tote.

Warum also gefährden nationalreligiöse Juden nun grüppchenweise die fragile Ruhe, indem sie zum Tempelberg drängen? Es ist wohl eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Anspruchsdenken, was vor allem die rechten Gruppen der israelischen Gesellschaft antreibt. Ihr vordergründiger Beweggrund ist ein religiöser: Auf dem Tempelberg stand erst der salomonische, später der herodianische Tempel der Juden. Sollte der Messias je ins heilige Land zurückkehren, dann müssten der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee weichen, ein dritter Tempel her.

Keine Ansprüche der Christen

Den Orthodoxen ist dabei gleichgültig, dass der Tempelberg auch die drittheiligste Stätte für Muslime ist, gleich nach Mekka und Medina. Just von dem Felsen aus, über dem sich heute der Felsendom erhebt, soll der Prophet Mohammed einst in den Himmel aufgestiegen sein. Und als wäre der Ort nicht schon heilig genug, erzählt die für Christen heilige Bibel davon, wie Jesus als Erlöser in Jerusalem einzog, Händler und Geldwechsler vom Tempelberg vertrieb und gegen den Opferkult am herodianischen Tempel protestierte. Lediglich die Kreuzigung des Erlösers, der zu Ostern gedacht wird, soll sich nicht am Tempelberg, sondern wenige hundert Meter davon entfernt zugetragen haben - an jenem Ort, an dem heute die Grabeskirche steht.

Während Christen (auch mangels Macht und Möglichkeiten) nun keinen Anspruch auf diesen heiligen Felsen erheben, stehen sich Juden und Muslime unversöhnlich gegenüber - auch weil der Gedanke von Toleranz nur schwach ausgeprägt ist. Denn nicht etwa nur die nationalreligiösen Juden stellen die Ansprüche der Muslime infrage - umgekehrt stellen diese in Abrede, dass je ein Tempel dort gestanden hat.

Religion statt Nation

Und dieser Kalte Krieg, der im Kleinen um den Tempelberg tobt, trägt sich nun auch schon seit Jahrzehnten um das Heilige Land in seiner Gesamtheit zu. Und er ist für Europäer auch deshalb so schwer nachzuvollziehen, weil das Denken der Menschen im Nahen Osten ein anderes ist. Ob Israeli, Ägypter, Syrer oder Iraner - fast jeder identifiziert sich in erster Linie über seine religiöse Zugehörigkeit. Nationale Identitäten sind dagegen weit weniger ausgeprägt. Und so wandelt sich dann und wann der nahezu unlösbare religiöse Konflikt auch immer wieder in einen weltlichen - mit zig Toten.

Neben dem Anspruchsdenken, dass die nationalreligiösen Juden mit gefährlichen Spaziergängen über den Tempelberg zur Schau stellen, hat sich aber in der israelischen Gesellschaft eine gefährliche Gleichgültigkeit weit über den rechten Rand hinaus gebildet.

Der Einigungs-Wille schwindet

Während in den vergangenen Jahren der Wunsch stets groß war, sich endlich mit den Palästinensern auf eine Zwei-Staaten-Lösung und eine Teilung Jerusalems zu einigen, haben sich nun viele mit dem Status quo arrangiert.

Zu den palästinensischen Nachbarn haben die meisten Israelis schon deshalb wenig Kontakt, weil die Regierung die besetzten Gebiete aus Angst vor Terror-Anschlägen mit Zäunen und neun Meter hohen Mauern abgesperrt hat. Ernsthafte Bedrohungen erwarten die Israelis auch nicht durch die arabischen Nachbarn. In Syrien tobt ein Bürgerkrieg, der Iran nähert sich dem Westen an, in Ägypten regiert das Israel-freundliche Militär und mit Jordanien herrscht Frieden. Warum also den Palästinensern einen eigenen Staat zubilligen, wenn sich das mit militärischer und wirtschaftlicher Macht verhindern lässt? Warum den Tempelberg an einen muslimischen Staat Palästina abtreten, wenn dieser für fromme Juden der heiligste Ort ist?

Verhandlungen ohne Ergebnis

Mit genau einer Forderung hat Israels Premierminister Benjamin Netanjahu die von US-Außenminister John Kerry angeschobenen Friedensverhandlungen eigentlich schon vor Wochen zum Scheitern verurteilt: Die Palästinenser sollen Israel als jüdischen Staat anerkennen. Was nichts Geringeres bedeuten würde, als dass die Muslime anerkennen müssten, dass das für alle Heilige Land zu allererst ein jüdisches ist.

Und somit ist klar: Selbst wenn weiter um Frieden und Staatenlösungen verhandelt wird - ein Ergebnis wird es nicht geben. Und damit steigt die Gefahr weiter, dass es bald wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern kommt - besonders dann, wenn nationalreligiöse Juden Orte betreten, die den Muslimen heilig sind. Wie an diesem Mittwoch, auf dem Tempelberg.