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Böhmer, Gysi und Tiefensee in Magdeburg Vom erfüllten Leben in der Diktatur

Auf den Mauerfall und dessen Folgen haben die ostdeutschen Politiker
Wolfgang Böhmer, Gregor Gysi und Wolfgang Tiefensee eine
unterschiedliche Sicht. Welche, wollte SPD-Bundestagsabgeordneter
Burkhard Lischka bei seiner Talkrunde wissen. Echter Streit entspann
sich nicht - die Zwischentöne waren die Würze der Debatte.

Von Steffen Honig 01.10.2014, 03:11

Magdeburg l Es war durchaus ein erfülltes Dasein in der DDR. Da ist sich das Politiker-Trio im mit rund 250 Gästen gefüllten Lichthof der Magdeburger Regiocom-Zentrale einig. Wolfgang Tiefensee, Leipziger Ex-Bürgermeister, früherer Bundesverkehrsminister und heute Bundestagsabgeordneter, spricht sogar von einem "wunderbaren Leben". Trotz der Ausgrenzungen, die er erfuhr, weil er nicht Pionier und FDJler war, sein Abitur nicht ablegen konnte und wegen Wehrdienstverweigerung als Bausoldat dienen musste.

Und Wolfgang Böhmer, Arzt und früherer Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat bis heute "Respekt vor allen, die darüber nachdenken, wie man das Zusammenleben der Menschen besser machen kann". Gregor Gysi impften die Eltern, die gegen Faschismus gekämpft hatten, ein, "auf der besseren Seite der Geschichte zu stehen". Die Widersprüche im System seien ihm erst später aufgestoßen. Es hat nicht funktioniert mit dem vorgeblich besseren Deutschland. Im Herbst 1989 begann die DDR zu kollabieren. Die drei Politiker bekennen, dass sie selbst - jeder auf seine Weise - für tiefgreifende Änderungen eingetreten seien.

Opfer der Eitelkeit

Die Fakten von Ausreisewelle über Massendemonstrationen bis zum Mauerfall sind weitestgehend erhellt. Diverse Anekdoten beleuchten die bewegenden Wochen des Umbruchs. Gysi berichtet von seinem ersten Fernsehauftritt als Rechtsanwalt zum Thema Reisegesetz. Die Eitelkeit sei mit ihm durchgegangen, als er die Zuschauer aufforderte, ihm eigene Anregungen zuzuschicken. Am nächsten Tag sei seine Kanzlei mit Tausenden Briefen zugedeckt worden.

Oder Wolfgang Böhmers Mauerfall-Erlebnis: Am 9. November sei er, als Mediziner in einem evangelischen Krankenhaus auf "ökumenischer Dienstreise" in Hannover gewesen. In einem Diakonissenhaus habe er am Abend noch ein bisschen fernsehen wollen. Die unglaublichen Nachrichten aus Berlin hätten daraus eine lange Bildschirmnacht gemacht.

Wie viel Unrecht steckte in der DDR, die sich offiziell als "Diktatur des Proletariats" definierte? Das Wort "Unrechtsstaat", derzeit bei der Thüringer Koalitionsdebatte in den Blickpunkt gerückt, kommt bei keinem der drei Politiker vor. Wohl aber streichen sie unisono heraus, dass die DDR mitnichten ein Rechtsstaat gewesen sei, in dem es "jede Menge Unrecht gegeben habe", wie Böhmer es ausdrückt. Aufhorchen lässt Tiefensee, der die Linken geradezu umschmeichelt: Das Anerkennen von Unrecht in der DDR sei eine "gute gemeinsame Basis" für Linke und SPD. Tiefensee sagt auch: "Die Angst ist der Kitt der Diktatur. Die Menschen haben aus dieser Angst Mut gemacht." Er zieht eine Parallele zum Mut in der Gegenwart: Wer heute seinen Mund aufmache, riskiere den Arbeitsplatz.

Die Frage der Mehrheiten

Auseinander gehen die Meinungen darüber, was von der DDR ins größere Deutschland hätte übernommen werden sollen. Gysi wäre zumindest für ein paar Punkte, wie die Berufsausbildung mit Abitur oder Polikliniken, gewesen. Weil dann auch die Westdeutschen ein "Vereinigungserlebnis" gehabt hätten. Böhmer kontert: "Es war für alle das erste Mal." Schließlich hätten die Ostdeutschen das Westgeld gewollt und nicht umgekehrt. Dann wäre da das Bevölkerungsungleichgewicht zugunsten des Westens. "Eine Demokratie braucht Mehrheiten."

Der musikalisch beschlagene Tiefensee findet, zumindest eine neue Nationalhymne stünde dem geeinten Deutschland gut zu Gesicht. Das Gedicht "Anmut sparet nicht noch Mühe" von Bertolt Brecht würde auch auf die Melodie des Deutschlandliedes passen. Böhmers augenzwinkernd-demokratische Anwort: "Machen Sie doch einen Vorstoß als Bundestagsabgeordneter. Vielleicht finden Sie eine Mehrheit."