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Fachkräftemangel Zuwanderung ist Altersvorsorge

27.05.2015, 01:33

Händeringend werden in Sachsen-Anhalts dünn besiedelten ländlichen Regionen Fachkräfte vor allem aus dem Ausland gesucht. Seit Jahren beschäftigt dieses Thema den Wissenschaftler Andreas Siegert. Steffen Honig sprach mit ihm.

Volksstimme: Die Idee, durch Anwerbung ausländischen Personals die medizinische Versorgung in demografischen Problemgebieten wie der Altmark zu sichern, ist nicht neu. Warum ist der Erfolg bislang begrenzt?
Andreas Siegert: Bislang lassen Anwerbestrategien bestimmte Faktoren unberücksichtigt. Deutschland ist auch deshalb für qualifizierte Fachkräfte nur ein bedingt attraktives Einwanderungsland. So fehlen z.B. angemessene Willkommensstrukturen und -strategien. International mobile Fachkräfte haben oft Alternativen und gehen eher nach Kalifornien als nach Kassel, eher in die Städte als aufs Land. Doch sind gerade ländliche Regionen auf ausländische Fachkräfte angewiesen. Und obwohl sich zunehmend Zuwanderer in Sachsen-Anhalt niederlassen, ist ihr Anteil immer noch viel zu gering.

Welche konkreten Erwartungen haben nach Ihren Untersuchungen die Einwanderer an Arbeits- und Lebensumfeld?
Bislang gibt es keine belastbaren Untersuchungen dazu, welche Anreize für die Einwanderer in ländlichen Regionen positiv wirken, obwohl die Bundesrepublik seit 60 Jahren ein Einwanderungsland ist.

Zahlreiche Studien lassen aber erkennen, dass nicht allein finanzielle Gründe für diese Entscheidung wichtig sind. Weitere Motive, wie z. B. berufliche Spezialisierungen und Erfahrungen, sozialer Aufstieg, Zugang zu guter Schulbildung, Kulturangebote und soziale Integration, werden bislang kaum bei Anwerbe- und Bindungsstrategien beachtet.

Reichen die materiellen und kulturellen Anreize aus?
Nein. Anders als oft angenommen, sind materielle Anreize nur ein Aspekt, der Migrationsentscheidungen beeinflusst. Ausländerfeindlichkeit z.B. kann Anwerbekampagnen zunichtemachen und dem Deutschlandbild im Ausland nachhaltig schaden. Das muss uns klar sein: Wer Ausländerfeindlichkeit duldet oder sogar fördert, trägt dazu bei, im Alter nicht ausreichend versorgt werden zu können. Das Beispiel zeigt, dass die einheimische Bevölkerung in den Anwerbe- und Integrationsprozess eingebunden werden muss.

In welchen Ländern oder Regionen ist das Interesse an einer Auswanderung nach Deutschland am größten?
Natürlich sind Flüchtlinge aus Krisengebieten dankbar, wenn sie eine Perspektive in einem Zufluchtsland erhalten. Nur haben sie nicht immer die gewünschte fachliche Qualifikation und oft wird ihnen keine Bleibeperspektive angeboten. Die Anwerbung aus EU-Staaten verspricht wenig Aussicht auf dauerhaften Erfolg, da bis auf drei EU-Länder alle die gleichen demografischen Probleme haben. Ein bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial gibt es in vielen bevölkerungsstarken asiatischen Ländern wie den Philippinen oder auch China, das schon heute viele Studenten an unsere Universitäten entsendet.

Was muss die deutsche Gesellschaft leisten, damit die Einwanderung von Arbeitskräften die Region nach vorn bringt?
Mir scheint, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit von qualifizierter Einwanderung überhaupt nicht ausreichend ist. Gerade in diesem Bereich haben Landes- und Bundespolitik eine Pflicht zur offenen und öffentlichen gesellschaftlichen Debatte. Darüber hinaus fehlen vielfach Informationen: Welche Erwartungen, Ängste und Hoffnungen haben potenzielle Einwanderer? Welche Qualifikationen benötigen sie? Was erleichtert ihre Integration? Aber auch: Welche Erwartungen, Ängste und Hoffnungen hat die ansässige Bevölkerung? Welche Beiträge zur Integration kann und möchte sie leisten? Und wie wird sie befähigt, sich in die Integration einzubringen? Sachsen-Anhalt hat eine reiche Erfahrung in der Aufnahme und Integration von Einwanderern. Das wird oft vergessen.

Kann Zuwanderung in dünn besiedelten Gebieten nicht immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, wenn sie nicht massenweise geschieht?
Sicher ist, dass das Ausmaß des demografischen Wandels durch keine einzelne Maßnahme lösbar ist. Nur eine Kombination vieler Schritte, wie z.B. Aktivierung der stillen Arbeitsmarktreserve, Integration von Langzeitarbeitslosen, aber auch Einwanderung, kann dazu beitragen, die gravierenden Konsequenzen für unsere Gesellschaft zu lindern. Deshalb ist Einwanderung lediglich ein - wenngleich sehr wichtiger - Aspekt einer Lösungsstrategie. Denn Einwanderung federt den anstehenden Übergang starker Jahrgänge in Rente und eine alternde Bevölkerung ab. Dies betrifft besonders Mangelberufe in der Kranken- und Altenpflege und erfordert erhebliche Anstrengungen. Denn die deutsche Sprache und einen auf Mitgefühl basierenden und mit soziokulturellen Kompetenzen verwobenen Beruf erlernt man nicht in einem Jahr.