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Präsident Recep Tayyip Erdogan Der Türkei droht schnelle Neuwahl

09.06.2015, 01:15

Ankara (dpa) l Sechs Wochen lang gönnte sich Präsident Recep Tayyip Erdogan keine Ruhepause. Jeden Tag trat er vor der Parlamentswahl in der Türkei auf, oft sogar mehrfach. Seine Energie konzentrierte Erdogan darauf, vor den Massen für eine "Neue Türkei" mit ihm als potenziell allmächtigen Präsidenten zu werben und gegen die Opposition zu wettern.

Am Sonntag erteilten die Wähler Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP eine Abfuhr. "Da hast Du die Neue Türkei", titelte die Zeitung "Cumhuriyet" am Montag schadenfroh. Die AKP-feindliche "Zaman" meinte: "Die Nation hat gesagt: Es reicht."

Verfassung verletzt

Niemand polarisiert die Türkei so sehr wie Erdogan. Dass er nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt einen "gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess" versprach, wirkt rückblickend wie Hohn. Doch nach dem Wahldebakel vom Sonntag war von dem aufbrausenden, polternden Präsidenten - dem egal war, ob er mit seinem Wahlkampf die Verfassung verletzte - nichts zu sehen.

In einer knappen Mitteilung, in der Erdogan ganz staatsmännisch klang, rief er die Parteien zu "verantwortlichem Handeln" auf. Sicherheit und Stabilität des Landes müssten geschützt werden.

Das Ergebnis dürfte der Türkei allerdings tatsächlich politisch und wirtschaftlich instabile Zeiten bescheren, auch wenn die Wahl ein Sieg der Demokratie war. Die pro-kurdische HDP - die antrat, Erdogan zu stoppen - wirbelt das System durcheinander. Ihr gelang es mit sensationellen 13 Prozent erstmals, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden, die Minderheiten wie die Kurden benachteiligt. Das führt dazu, dass die AKP nach mehr als zwölf Jahren Alleinherrschaft die absolute Mehrheit verliert. Das AKP-Ziel, die Verfassung zu ändern und Erdogans Präsidialsystem einzuführen, ist in weite Ferne gerückt.

AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ging in seiner Ansprache mit keinem Wort darauf ein, dass seine Partei rund neun Prozentpunkte Verlust eingefahren hat. Er betonte, auch aus dieser Wahl sei die AKP "als Sieger hervorgegangen".

Experten befürchten Chaos

Die AKP kann nun eine Minderheitsregierung bilden, die von einem Teil der Opposition toleriert werden müsste, die dafür ihrerseits kaum einen Grund finden dürfte. Oder sie muss sich einen Koalitionspartner unter den Parteien suchen, die Erdogan bis zur Wahl noch agressiv bekämpfte. Gelingt dem Parlament binnen 45 Tagen keine Regierungsbildung, droht das Szenario, das das AKP-Sprachrohr "Yeni Safak" auf seiner Titelseite am Montag in großen Lettern voraussagte: "Vorgezogene Neuwahlen".

Die HDP hat eine Koalition mit der AKP ausdrücklich ausgeschlossen. Ein Zusammengehen der kemalistischen Mitte-Links-Partei CHP mit der islamisch-konservativen AKP ist unwahrscheinlich. Die größten Schnittmengen gibt es - etwa bei den Themen Nationalismus und Religion - mit der ultrarechten MHP.

"Das wahrscheinlichste Szenario ist eine Koalitionsregierung aus AKP und MHP", sagt die Direktorin des Zentrums für Türkeistudien am Nahost-Institut in Washington, Gönül Tol. "Wenn es dazu kommt, glaube ich, dass der Friedensprozess (mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK) das erste Opfer sein wird. Sollte es zu dieser Koalition kommen, wird es Chaos geben." Die MHP will den Friedensprozess sofort beenden, den die frisch ins Parlament gewählte HDP mit allen Kräften vorantreiben will.

Für Erdogan bedeutet jede Koalition Einflussverlust. Regierungspartner werden sich von ihm nicht in der Art und Weise herumkommandieren lassen, wie es die ihm bislang bedingungslos ergebene AKP tut. MHP-Chef Devlet Bahceli forderte Erdogan nach der Wahl schon dazu auf, über einen Rücktritt nachzudenken. Doch so weit ist Erdogan noch lange nicht.