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Japanische Behörden machen widersprüchliche Angaben Was geschah eigentlich in Fukushima?

14.03.2011, 04:34

Von Georg Ismar

Eigentlich sollte Reaktor 1 im japanischen Atomkraftwerk Fukushima I bis April vom Netz gehen. Nun wird der Atomkomplex bereits in einem Atemzug mit Tschernobyl genannt. Widersprüchliche Informationen der japanischen Regierung und der Betreiber machen es schwer, die genaue Situation zu beurteilen. Eine Explosion hat die äußere Hülle des Atommeilers schwer beschädigt, gestern wurde eine Kernschmelze im Reaktor 3 bestätigt.

Fukushima ist das Herz von Japans Atomindustrie, hier gibt es zehn Reaktoren. Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es 17 Atommeiler. Der Bau von Block 1 begann nach Angaben der World Nuclear Association am 31. Juli 1967. Am 17. November 1970 ging der vom Stromversorger Tokyo Electric Power Company (Tepco) betriebene Siedewasserreaktor mit einer Bruttoerzeugungskapazität von 460 Megawatt ans Netz.

Immer wieder gab es Pannen: 2006 trat radioaktiver Dampf aus einem Rohr aus, 2002 wurden Risse in Wasserrohren entdeckt. Im Jahr 2000 musste ein Reaktor wegen eines Lochs in einem Brennstab abgeschaltet werden. Und im September 2002 musste der Betreiber Tepco in einem Vertuschungsskandal einräumen, Berichte über Schäden jahrelang gefälscht zu haben.

Durch das Erdbeben und den Tsunami kam es zu einem Ausfall der Stromversorgung. Zwar sprangen Dieselgeneratoren an, die die Siedewasserreaktoren mit Strom versorgten. Auch diese fielen aber nach etwa einer Stunde aus – wahrscheinlich durch den Tsunami, der in der Umgebung schwere Überschwemmungen verursachte. Batterien konnten nur notdürftig das Kühlsystem aufrechterhalten. Die Folge: Die Brennstäbe konnten nicht mehr ausreichend gekühlt werden, den Pumpen fehlte Strom zum Wälzen des Kühlwassers.

Neben Reaktor 1 fiel auch in Block 3 das Kühlsystem aus, somit droht eine doppelte Kernschmelze – auch wenn die japanischen Behörden widersprüch- liche Angaben machen. Auch nach der Abschaltung laufen in den Brennstäben diverse Reaktionen ab, weshalb ohne Kühlung eine Kernschmelze und so die Zerstörung des Reaktors droht.

Wenn das Kühlwasser absinkt, überhitzt der Reaktorkern, und die Brennstäbe werden beschädigt, heißt es in einer Analyse der US-Organisation "Union of Concerned Scientists". Das könnte zur Schmelze führen.

Die Temperaturen steigen auf 2000 Grad, die Schmelzmasse kann sich angesichts der steigenden Radioaktivität, erhöhten Drucks durch Gase und Wasserstoff durch die Stahlwände des Reaktorgefäßes fressen. Damit würde eine große Menge Radioaktivität in dem Schutzgebäude rund um das Reaktorgefäß freigesetzt und, etwa durch den Boden, nach draußen gelangen. Möglich ist aber auch eine Explosion des Druckbehälters. Dann wäre der Fall Tschernobyl eingetreten.

"Dieser Prozess ist nicht mehr zu stoppen, wenn das Kühlsystem versagt hat", meint der renommierte Physiker Lothar Hahn, der bis 2010 Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit war. "Für den Experten ergibt sich aus den vielen Mosaiksteinchen ein sehr düsteres Gesamtbild", sagt Hahn. Viele erinnert die verwirrende Informationspolitik der Japaner bereits an Tschernobyl, wo das wahre Ausmaß erst nach Tagen zugegeben wurde.

Die Betreiber versuchen mit Meerwasser, das mit dem Halbmetall Bor versetzt wurde, den Meiler wieder unter Kontrolle zu bringen. Was mit dem radioaktiv verseuchten Meerwasser anschließend passiert, ist unklar. Als letztes Mittel bleibt, Sand über die Schmelze zu bekommen und sie soweit wie möglich von der Umwelt abzuschirmen. Für Experten sind die derzeitigen Versuche des Betreibers nur Verzweiflungstaten.

Bei einer Explosion wurden zudem Teile der äußeren Reaktorhülle aus Stahlbeton beschädigt. Die Explosion ereignete sich außerhalb des Reaktorbehälters, als Wasserstoffgase zur Druckabsenkung im Reaktor abgelassen wurden und mit Sauerstoff in Kontakt kamen. Der frühere Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Umweltministerium, Wolfgang Renneberg, vermutet, die innere Hülle aus Stahl sei wohl noch intakt. Ein Super-GAU mit einem massiven Austritt von Radioaktivität scheine noch nicht vorzuliegen.

Bisher wurden 200 000 Menschen im Umkreis von 20 Kilometern evakuiert. Greenpeace betont, der Fall sei in seinem Ablauf nicht mit dem GAU 1986 in Tschernobyl vergleichbar, wo der Graphitreaktor tagelang gebrannt hatte. Das Dramatische in Fukushima sei, dass es mehrere Kernschmelzen gebe und Tokio nur 250 Kilometer entfernt ist. Zudem ist die Bevölkerungsdichte 20-mal höher als 1986 in Tschernobyl. An die japanischen Bürger wurden bereits Jodtabletten verteilt. So wird die Schilddrüse mit Jod angereichert, dass sich das radioaktive Jod 131, das aus dem Reaktor entweichen kann, nicht mehr festsetzt. Zwar weht im Moment der Wind in der Region auf das Meer, aber wenn die Wolke Richtung Tokio treiben sollte, müssten die Menschen alles dafür tun, die Luft nicht einzuatmen.(dpa)