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Interview mit dem Leiter der Chirurgischen Universitätsklinik Magdeburg, Hans Lippert Trauma der Wartezeit: Die Sorge, dem Tod erneut nahezukommen

28.05.2011, 04:27

Dank medizinischer Fortschritte werden durch Organtransplantationen Leben gerettet. Doch für etliche Patienten sei nach der Operation eine psychologische Betreuung (überlebens)notwendig sagt Dr. Hans Lippert. Mit dem Leiter der Chirurgischen Universitätsklinik Magdeburg und international anerkannten Arzt sprach Kathrain Graubaum über das "Trauma der Wartezeit".

Volksstimme: Seit über zehn Jahren werden an der Magdeburger Chirurgischen Universitätsklinik hauptsächlich Lebertransplantationen durchgeführt. Sie betreuen Ihre Patienten auch nach der Operation noch lange Zeit. Wie geht es diesen Patienten psychisch mit dem neuen Spenderorgan?

Hans Lippert: Während sich bei den meisten im Vorfeld der OP die Gedanken darum drehten, am Leben zu bleiben, egal wie, möchten sie danach herausfinden, wer der Spender war und sich bei dessen Familie bedanken. Da das nicht möglich ist, entsteht oft eine psychische Belastung.

Volksstimme: Es ist bei uns gesetzlich geregelt, dass Organspender und -empfänger anonym bleiben. Wie reagieren die Ärzte, wenn sich daraus die besagten psychischen Probleme ergeben?

Lippert: Der Organempfänger ist bei uns in Dauerbetreuung, da er unter anderem lebenslang Medikamente nehmen muss. Es wird also sofort erkannt, wenn eine psychologische Behandlung erforderlich ist. Dagegen wird meiner Ansicht nach die Familie des Spenders mit ihren Problemen oft allein gelassen. Eine Form des "gesellschaftlichen" Dankes könnte darin bestehen, deren psychologische Betreuung abzusichern. Treffen in Selbsthilfegruppen sind auch denkbar.

Volksstimme: Werden die Organempfänger auch von Gewissensbissen geplagt?

Lippert: Kein Empfänger muss solche Gefühle entwickeln. Ein Patient, bei dem ein Hirntod festgestellt wurde, ist definitiv tot. Die Organspende ist dann ein gänzlich unabhängiger, streng kontrollierter Ablauf, der durch die "Deutsche Stiftung Organspende" organisiert wird. Auch die Organzuteilung erfolgt über eine europäische Liste. Die Wartezeit ist abhängig vom Krankheitsstadium. Bei einer Lebendspende, wie es bei Nieren- und Leberteilspende möglich ist, handelt es sich eher um die moralisch belastende Frage der lebenslangen Dankbarkeit, beziehungsweise des Nein-Sagens, weil hier die meisten Spender aus dem Verwandtschaftskreis stammen. Die psychologische Betreuung muss dahin führen, dass die Dankbarkeit nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis, sondern ein Glücksgefühl mündet. Das lässt sich am einfachsten natürlich zwischen Mutter, Vater und Kind herstellen.

Volksstimme: Sie sagen, dass mit dem "wieder fit sein" nach der Transplantation auch eine tiefe Angst kommen kann. Worin liegt die begründet?

Lippert: Im Trauma der Wartezeit. Während der Zeit vor der OP erleben die Patienten, wie ihre Kräfte schwinden, wie sie sich dem Tode nähern. Nach Operation und Reha können sie bis zu 80 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit wiedererlangen. Mit diesem Hochgefühl stellt sich die Sorge um eine begrenzte Zeit mit dem Spenderorgan ein; die Angst, dem Tod erneut so nahezukommen. Eine Art Endzeitstimmung macht sich manchmal breit. Die kann zwei bis drei Jahre dauern und so unerträglich werden, dass auch Suizid-Gedanken auftreten. Da ist die Betreuung durch ausgewiesene Psychologen gefragt. Die haben wir an den Unikliniken in Magdeburg und Halle.

Volksstimme: Spielt das Alter des Spenderorgans für die Lebenserwartung des Empfängers eine Rolle?

Lippert: Nein. Die Altersgrenzen für Spender sind mittlerweile weitgehend aufgehoben. Allerdings wird bei Kindern versucht, junge Spender zu vermitteln. Denn wir haben inzwischen Patienten, die schon 20 Jahre mit einem Spenderorgan leben.

Volksstimme: Was halten Sie von angeblichen Wesensveränderungen bei Menschen, die ein fremdes Organ erhalten haben?

Lippert: Hier handelt es sich oft um eine gewisse "Erwartungshaltung", die der Patient im Vorfeld schon aufgebaut hat – durch sein Grübeln, durch Berichte im Fernsehen, in Zeitungen, auch im Internet.

Volksstimme: Das Internet wird oft als Fluch und Segen zugleich empfunden – auch, wenn es um medizinische Aufklärung geht?

Lippert: Wie man etwas versteht, hängt vom eigenen Hintergrundwissen ab. In dieser Hinsicht kann durch das Informieren im Internet auch ein Angstpotenzial aufgebaut werden. Ich möchte aber keinesfalls gegen eigenes Recherchieren appellieren. In unseren Vorgesprächen mit den Patienten nehmen wir uns viel Zeit, um alle Fragen, die sich daraus ergeben, zu klären. "Richtiges" Wissen ist sehr gut geeignet, um Vertrauen zur medizinischen Behandlung zu schaffen.