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Etwa 15 Prozent des Lohnunterschiedes zwischen Ost und West beruhen auf unterschiedlichen Strukturen Von fehlenden Fachkräften, Löhnen und von Äpfeln und Birnen

20.12.2010, 04:27

Von Klemens Gutmann

Sachsen-Anhalts Unternehmer müssen sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, sie trügen durch unangemessen niedrige Löhne zur Abwanderung von Fachkräften bei. Dabei werden oft Bundesländervergleiche der amtlichen Verdienststatistik als Beleg bemüht. Da grundlegende Unterschiede in Wirtschafts- und Unternehmensstrukturen dabei außen vor bleiben, ähnelt dies einem Äpfel-und-Birnen-Vergleich.

Um zu einer differenzierten Sicht zu kommen, hat der Arbeitgeber-Dachverband des Landes eine Umfrage zum Bedarf an Hochschulabsolventen durchführen lassen und bestehende Studien und Zahlen der Statistikbehörden und des IFO-Instituts zu Rate gezogen.

Differenzierter Blick

Unstrittig ist, dass unterschiedliche regionale Wirtschaftsstrukturen zu unterschiedlichen Durchschnitts- löhnen führen. Diese Regel gilt bundesweit. Ob München versus Oberpfalz oder Hamburger Umland versus Ostholstein. Einziger Unterschied: Dort gehen die Unterschiede in der Mischkalkulation der Bundesländer Bayern bzw. Schleswig-Holstein unter. In Sachsen-Anhalt haben wir keine Metropolen à la Hamburg und München. Es fehlt also eine wichtige Zutat für die "Mischung" in der Kalkulation.

Wir haben uns gefragt: Wie gut ginge es denn noch den Schwaben, wenn sie unsere Industriestruktur hätten? Oder umgekehrt: Wie viel besser ginge es uns, wenn wir die Struktur Nordrhein-Westfalens oder aber des Bundesdurchschnitts hätten? Dadurch ergibt sich ein deutlich differenzierter Blick auf die Gehaltsunterschiede, die zwischen Ost und West, Nord und Süd sowie zwischen Stadt und Land bestehen.

Die Studie der Dresdner Niederlassung des IFO-Instituts gibt hierfür präzise Antworten:

p Der durchschnittliche Stundenlohn eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers in den ostdeutschen Bundesländern liegt bei etwa 74 Prozent des westdeutschen Niveaus.

Nun kommen drei strukturprägende Faktoren dazu:

p IFO Dresden kommt zu der Auffassung, dass 1,5 Prozentpunkte der Verdienstlücke Ost-West auf die unterschiedliche Branchenstruktur zurückzuführen sind. In Sachsen-Anhalt sind wertschöpfungsintensive und damit Hochlohnbranchen gar nicht (z. B. Luftfahrtindustrie oder Automobilendproduzenten) oder nur unterdurchschnittlich vertreten. Wichtige, die regionale Struktur bestimmende Branchen, sind noch im Wachstum (Solar oder hochwertige Zulieferer). Hätte Sachsen-Anhalt die bundesdeutsche Durchschnittsstruktur, würde der gemittelte Stundenlohn automatisch um 1,5 Prozent nach oben rutschen.

p IFO hat auch den Einfluss der Unterschiede in der funktionalen Arbeitsteilung untersucht, die daraus resultieren, dass in Ostdeutschland häufig nur nachgelagerte Teile der Wertschöpfungskette angesiedelt sind. Rund 3 Prozentpunkte der Verdienstlücke sind darauf zurückzuführen. In Sachsen-Anhalt haben kaum Firmenzentralen ihren Sitz, höher bezahlte Stäbe und Ingenieursabteilungen sind relativ selten. Viele Niederlassungen arbeiten als verlängerte Werkbank. Hätten wir hier die deutsche Durchschnittsstruktur, ginge der durchschnittliche Stundenlohn noch mal um drei Prozent nach oben.

p Nun zum wichtigsten Faktor: In ganz Europa wird in Großunternehmen besser bezahlt als bei mittleren und kleineren Firmen. So verdient ein Beschäftigter in einem Industriebetrieb mit mehr als 1000 Mitarbeitern im verarbeitenden Gewerbe in Nordrhein-Westfalen im statistischen Mittel etwa ein Drittel mehr als sein Kollege im Kleinbetrieb mit 49 oder weniger Mitarbeitern. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, in Sachsen-Anhalt einen Arbeitsplatz in einem Großunternehmen mit über 1000 Mitarbeitern unterzukommen, liegt bei etwa einem guten Drittel des Erwartungswertes z. B. in Nordrhein-Westfalen.

Am unteren Ende der Skala ist es umgekehrt: In Sachsen-Anhalt arbeiten 17,4 Prozent der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe in kleinen Unternehmen unter 50 Mitarbeitern, in Nordrhein-Westfalen sind es nur 11,7 Prozent.

Das IFO-Institut hat ausgerechnet, dass 10 Prozent des Gehaltsunterschiedes Ost-West allein auf die unterschiedliche Größenstruktur gehen. Für das produzierende Gewerbe geht IFO sogar davon aus, dass dieser Effekt noch höher ausfallen könnte.

Summa Summarum: Etwa 15 Prozent des Lohnunterschiedes sind erklärbar und aufgrund der unterschiedlichen Strukturdaten auch zu erwarten.

Solche Berechnungen können einen großen Teil des Lohn- und Gehaltsunterschiedes erklären und sind damit aus dem politischen Streit herauszunehmen.

Zugegeben: Die Betroffenen können sich von guten Argumenten nichts kaufen. Diese nackten Zahlen helfen demjenigen nur wenig, der hier im Land in einem kleinen Unternehmen statistisch nur etwa drei Viertel von dem verdient, was er in vergleichbarer Tätigkeit in einer normalen Region im Westen erhält.

Die Wahrheit ist und bleibt: Wir stehen nach wir vor in einem Aufholprozess. Bis sich die Know-how-intensiven und gehaltsstarken Branchen hier entwickelt haben, wird es noch dauern. Bis die ersten Großunternehmen im Land herangewachsen und konsolidiert sind, werden wir noch ein oder zwei Jahrzehnte warten müssen.

Aber wir haben auch einige strukturelle Vorteile, die auch den Arbeitnehmern zugute kommen. Wer sich entschließt, im statistisch besser gestellten Westen Arbeit und Wohnung zu suchen, merkt schnell, dass er schon in Hannover für eine Zweiraumwohnung monatlich hundert bis zweihundert Euro mehr mitbringen muss – netto, versteht sich. Und beim Umzug in Städte wie Stuttgart oder München liegt der Mehrbedarf schnell auch bei 400 bis 600 Euro.

Keinesfalls hilflos

Und wir stehen in Sachsen-Anhalt keineswegs hilflos da im Wettbewerb um die guten Talente. Ein gutes Beispiel sind die Hochschulabsolventen. Nach Abschluss des Studiums brechen sie oft zu neuen Ufern auf, gerne auch mal ins Ausland. Um sie hier zu halten, sind – neben interessanten Aufgaben und einem guten Betriebsklima – wettbewerbsfähige Gehälter sehr wichtig.

Der Lehrstuhl "Internationales Management" der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (OvGU) hat in unserem Auftrag 40 Industrieunternehmen und Industriedienstleister unter anderem danach befragt, welche Gehälter sie jungen Ingenieurabsolventen anbieten. Die Unternehmen ab 250 Mitarbeitern – in der Landesperspektive als "große Unternehmen" bezeichnet – boten durchschnittlich etwa 3100 Euro im Monat. Bei den kleineren Unternehmen unter 50 Mitarbeitern erhielten die Anfänger nur etwa 2500 Euro. Bemerkenswert auch die Ausreißer: Ein Kleinunternehmen bemühte sich, mit einem Gehaltsangebot von 1600 Euro im Monat am Akademikerarbeitsmarkt erfolgreich zu sein. In einigen großen Unternehmen wurden dem Berufsanfänger aber auch bis zu 3600 Euro im Monat geboten.

Die erfreuliche Nachricht für die Unternehmen im Lande: Im Durchschnitt deckt sich das weitgehend mit den Erwartungen der Studenten. Die OvGU hatte 2009 die Ergebnisse einer Umfrage unter ihren Studenten veröffentlicht. Über 40 Prozent der Befragten sehen sich zum Berufseinstieg in einem Bereich zwischen 2500 und 3300 Euro pro Monat. Ein gutes Viertel der Befragten liegt darüber, ebenso ein gutes Viertel darunter. Die OvGU hatte alle Absolventen befragt, also auch Geisteswissenschaftler mit häufig niedrigeren Einstiegsgehältern. Allerdings stellen die eher gehaltsstarken ingenieur- und naturwissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam mit den Betriebswirten den deutlich größeren Teil der Absolventen der Magdeburger Universität, so dass diese Umfrage einen wichtigen Hinweis liefert.

Die Arbeitgeber Sachsen-Anhalts plädieren für eine Entpolitisierung der Gehaltsdiskussion. Entsprechende Vorschläge und Forderungen nach Angleichung an westdeutsche Tarifniveaus sind ebenso wenig sachgerecht, wie der wirtschaftspolitische Wunsch, im nächsten Jahr in Sachsen-Anhalt die Wirtschaftsstruktur Baden-Württembergs einzuführen.

Tarifverträge sind eine Aufgabe für die Fachleute von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, nicht für die Politik. Skandalträchtige Niedrigstlöhne sind eine Aufgabe für die Gewerbeaufsicht und für schnelles behördliches Handeln. Wettbewerbsfähige Gehälter für den akademischen Fach- und Führungskräftenachwuchs sind Aufgabe der Unternehmen.

Gut gemeinte oder hämische Kommentare von Dritten bringen uns nicht weiter. Qualifizierte Aussagen können nur von den Arbeitnehmern, von den Arbeitgebern und von ihren jeweiligen Interessenvertretungen kommen.

Klemens Gutmann ist Präsident der Arbeitgeberverbände in Sachsen-Anhalt.