1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Wenn Wörter ein Verbrechen sein können

Vergabe des Friedensnobelpreises am Freitag an Liu Xiaobo: Sein Stuhl wird leer bleiben Wenn Wörter ein Verbrechen sein können

06.12.2010, 04:19

Von Andreas Landwehr

Es ist genau zwei Jahre her. Am späten Abend des 8. Dezember 2008 kam die Polizei, um Liu Xiaobo abzuholen. Die Beamten legten ein Dokument vor, das ihm "Untergrabung der Staatsgewalt" vorwarf. Sie nahmen den Vorsitzenden des Pen-Clubs unabhängiger chinesischer Schriftsteller mit, beschlagnahmten Computer und Manuskripte.

Für den Bürgerrechtler kam die Festnahme nicht überraschend. Seine Frau hatte ihn oft gewarnt, "dass die Polizei kommen wird – mit Sicherheit". Als er in den Wochen zuvor mit seinen Freunden die "Charta 08" entworfen und diskutiert hatte, war allen klar, dass wohl einer von ihnen dafür ins Gefängnis gehen würde. Nicht zuletzt Liu selbst wusste, dass es wahrscheinlich auf ihn zulaufen würde, wie seine Freunde berichteten.

Internet gemieden, um Schnüfflern zu entgehen

Doch als die Polizei zuschlug, war der wegweisende Appell für Demokratie und Menschenrechte in China, der sich die "Charta 77" in der Tschechoslowakei zum Vorbild genommen hatte, längst fertig.

Liu und die anderen waren vorsichtig gewesen. Sie hatten das Internet gemieden, um der Staatssicherheit zu entgehen. Liu habe seine Mitstreiter lieber persönlich besucht, um an dem Dokument zu feilen, berichtete Ding Zilin später. Die pensionierte Professorin steht an der Spitze der "Mütter von Tian‘anmen", dem losen Netzwerk der Opfer der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989. "Er besuchte mich mehrmals, um über den Entwurf zu diskutieren."

Rund 300 Intellektuelle und Aktivisten setzten ihre Unterschrift unter die "Charta 08", die sich wie ein Entwurf für eine neue Verfassung für China liest. Zwei Tage nachdem Liu festgenommen worden war, veröffentlichen sie das Dokument zum 60. Jahrestag der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 2008.

Ob Zufall oder Absicht – auf den Tag genau zwei Jahre später, am kommenden Freitag, dem 10. Dezember, wird Liu bei einer Zeremonie in Oslo der Friedensnobelpreis "für seinen langen und gewaltlosen Kampf für fundamentale Menschenrechte in China" zuerkannt. Doch sein Stuhl wird leer bleiben. Der 54-Jährige sitzt im Jinzhou-Gefängnis (Provinz Liaoning) in Nordostchina seine elfjährige Haftstrafe ab.

"Es muss ein Ende haben, dass Wörter Verbrechen sein können", fordert die "Charta 08". Verlangt wird auch ein Ende des Straftatbestandes der "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt", der Liu hinter Gitter gebracht hatte. "Wo die Freiheit nicht blüht, kann von moderner Zivilisation keine Rede sein", mahnt das Dokument die kommunistischen Führer Chinas. Eine Modernisierung, die sich von universellen Werten entferne, "kann nur zu einem Katastrophenprozess werden, der den Menschen ihre Rechte raubt, ihre Vernunft korrumpiert und Würde zerstört".

Die Umerziehungslager müssten geschlossen werden, und die Bürger sich frei versammeln und organisieren dürfen. China brauche demokratische Wahlen, Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz. Die Streitkräfte müssten nicht mehr der Partei unterstehen, sondern loyal zu Staat und Verfassung sein. Ein soziales System mit einer Grundsicherung für Ausbildung, Krankheit, Alter und Arbeit solle aufgebaut werden. "Die Rückständigkeit des gegenwärtigen Systems ist an einem Punkt angekommen, wo es ohne Reformen gar nicht mehr geht", heißt es in dem Manisfest, das seither mehr als 10 000 Menschen unterschrieben haben.

China trage auch als ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat besondere Verantwortung. "Es ist bedauerlich, dass allein China unter den Großmächten der heutigen Welt sich noch im Zustand eines autoritären politischen Systems findet und aus diesem Grund fortwährend Menschenrechts-Katastrophen und soziale Krisen produziert, die Entwicklung der Nation aus eigener Kraft fesselt und den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit einschränkt."

Vor Gericht: "Ich bereue nichts"

Das Manifest endet mit den Worten: "Dieser Zustand muss geändert werden! Die Überführung der politischen Herrschaft in eine Demokratie erlaubt keinen weiteren Aufschub mehr."

Ein Jahr später sagte Liu vor Gericht: "Ich bereue nichts." Er sehe dem Tag entgegen, wo in China Meinungsfreiheit herrsche und verschiedene Werte, Ideen und politische Meinungen friedlich miteinander wetteiferten. "Meinungsfreiheit ist die Grundlage der Menschenrechte, die Quelle der Menschheit und die Mutter der Wahrheit", sagte Liu seinen Richtern, bevor sich die Gefängnistüren hinter ihm schlossen. (dpa)