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Debatte um Zuwanderung bleibt ein Dauerbrenner Von Billig-, Pflege- und Spitzenkräften

29.12.2010, 04:23

Von Ruppert Mayr

Mitte des Jahres hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Sozialpartner auf Schloss Meseberg versammelt, um endlich mal ausgiebig über den drohenden Fachkräftemangel nachzudenken. In der Abgeschiedenheit des Regierungsgästehauses gut 60 Kilometer nördlich von Berlin verständigten sich Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften auf eine Arbeitsgruppe, die den demografischen Wandel unter die Lupe nehmen sollte. Zum Ende des Jahres 2010 ist das Stimmengewirr größer denn je – wohl auch, weil man sich immer noch nicht darauf verständigen konnte, was Deutschland braucht und vor allem, was oder wen es will.

Die Fronten verlaufen quer durch die Koalition von Union und FDP. So hat die Union zwar schon vor Jahren eingeräumt, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Doch in der Breite der beiden Schwesterparteien hat sich diese Überzeugung noch nicht ganz durchgesetzt. Das ließ jüngst CSU-Chef Horst Seehofer erkennen, als er – vorübergehend – einen Einwanderungsstopp für Türken und Araber forderte. Die Union hat bei dem Thema immer auch den rechten Rand im Blick. Denn wann immer über Ausländerprobleme gesprochen wurde, erstarkten Rechtsradikale, sagen Meinungsforscher.

Die FDP will das Thema ähnlich offensiv angehen wie die Wirtschaft. Sie will den Mindestverdienst, bei dem ausländische Fachkräfte in Deutschland arbeiten können, nicht bei 66000 Euro, sondern bei 40000 Euro ansetzen. So hätten auch talentierte Berufseinsteiger eine Chance auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Zudem favorisieren die Liberalen ein Punktesystem zur Auswahl der Kandidaten nach kanadischem Vorbild.

Während etwa Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) einem solchen System gegenüber offen ist, lehnt es Innenminister Thomas de Maizière (CDU) rundweg ab. Nach seiner Ansicht ist das bestehende Recht schon sehr zuwanderungsfreundlich. De Maizière wie weite Teile der CSU vermuten hinter den Vorstellungen der Liberalen vor allem den Wunsch, dass den Arbeitgebern vom Staat Menschen zu Billiglöhnen zugeführt werden.

Seehofer drückte diese Befürchtung in der "Welt am Sonntag" so aus: "Wenn Fachkräftemangel einfach dadurch behoben werden soll, dass man die Einkommensgrenzen für Zuwanderer aus aller Welt senkt, ist das nichts anderes als ein Beschaffungsprogramm für billige Arbeitskräfte." Zuwanderung müsse sich auf Spitzenkräfte konzentrieren.

Doch genau diese Spitzenkräfte zieht es anderswo hin, wenn die Politik nicht endlich begreife, dass Deutschland hier in einem beinharten Wettbewerb stehe, mahnt BDI-Präsident Hans-Peter Keitel. DIHK-Präsident Hans Heinrich Driftmann warnte im Herbst, der Wirtschaft fehlten rund 400000 Ingenieure, Meister und Fachkräfte. Deutschland verzichte dadurch jährlich auf rund 25 Milliarden Euro Wertschöpfung und rund ein Prozent Wirtschaftswachstum.

CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich gibt diesen Schwarzen Peter an die Wirtschaft zurück: "Wir können nicht die Entscheidung in Unternehmen ersetzen, attraktive Angebote an Arbeitskräfte zu machen", sagte er der dpa. Im Übrigen solle sich die Wirtschaft zunächst auf den europäischen Markt mit seinem offenen Grenzen konzentrieren. Die Möglichkeiten würden nicht genug ausgeschöpft.

FDP und Wirtschaft haben ganz offensichtlich hoch qualifizierte, besser verdienende Zuwanderer wie Ingenieure und IT-Spezialisten im Auge. Doch die Debatte um Hochqualifizierte und Mindestverdienste greift zu kurz. Es geht nämlich auch um Zuwanderung in Sozialberufe wie die Pflege. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten 20 Jahren auf 3 bis 3,4 Millionen. In zehn Jahren werden anderen Berechnungen zufolge 300000 zusätzliche Fachkräfte in der Branche benötigt. Das Reservoir an Pflegekräften aus osteuropäischen Staaten wie Polen oder der Ukraine werde parallel dazu schrumpfen, denn deren wirtschaftliche Annäherung an Westeuropa werde auch ihre demografische Entwicklung beeinflussen.

Letztlich ist allen klar: Zuwanderung muss gesteuert werden, um den häufig beschworenen Zuzug ins Sozialsystem zu vermeiden. Es führt also kein Weg daran vorbei, sich endlich festzulegen, wen man im Lande haben will. Wichtig ist, welchen Beruf die Fachkraft hat und welche Berufserfahrung, welchen Ausbildungsgrad, welches Alter, Sprachkenntnisse und Integrationsfähigkeit – alles Punkte, die man systematisch abfragen könnte.(dpa)