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Das Artensterben in rasantem Tempo Kaum ein Medikament ohne Anleihen aus der Natur

01.11.2010, 04:18

Von Gisela Ostwald

Millionen Menschen mit Magengeschwüren hätten womöglich geheilt werden können: Tief im australischen Regenwald waren Forscher vor Jahren auf einen Frosch gestoßen, der vermutlich ein Geheimnis zur Therapie von Magengeschwüren in sich barg.

Die seltene Art (Rheobatrachus vitellinus), braungefleckt mit gelbem Bauch, schluckte ihre befruchteten Eier und brütete sie im Magen aus. Wenn die Zeit kam, kletterten die Froschkinder aus dem Maul der Mutter. US-Mediziner glauben, dass die Froscheier über eine Substanz verfügten, die sie vor der Magensäure der Mutter schützte.

Wahrscheinlich hätten einmal ungezählte Patienten mit Reizmagen und Magengeschwüren von diesem Stoff profitieren können, sagt der Mediziner Eric Chivian von der Harvard-Universität in Boston. Aber der Frosch ist mittlerweile ausgestorben – und mit ihm das Geheimnis seiner widerstandsfähigen Eier.

Nirgendwo verliert die Natur so viele Arten wie in den Tropen, warnte jüngst die Weltnaturschutzunion IUCN in einem Bericht zur UN-Konferenz für biologische Vielfalt, die am Freitag im japanischen Nagoya beendet wurde.

Das Bostoner Zentrum für Gesundheit und globale Umwelt unter Leitung des Harvard-Professors Chivian vergleicht das Ausmaß des heutigen Artensterbens mit dem vor rund 65 Millionen Jahren. Damals hatte eine Naturkatastrophe, vermutlich der Einschlag eines Asteroiden, die Dinosaurier und weite übrige Teile des Lebens auf der Erde ausgelöscht. Mit jeder Art gehe ein Naturgeheimnis verloren, das Mittel gegen Krankheiten des Menschen verheiße, betont das Team um Chivian.

Beispiel Eisbären: Von ihnen hofft die Forschung, Neues über Knochenschwund, Nierenversagen und gewichtsbedingten Diabetes Typ II lernen zu können. Doch Eile ist geboten: Die weißen Kolosse aus der schmelzenden Arktis werden nach Experteneinschätzung noch bis Ende dieses Jahrhunderts aussterben. Eisbären bewegen sich gut die Hälfte des Jahres nicht, büßen aber dennoch keine Knochensubstanz ein. Sie halten den Urin im Winterschlaf monatelang, ohne ihren Nieren zu schaden – und fressen sich zuvor dicke Speckrollen an, bleiben aber von Diabetes verschont.

Kegelschnecken, die ihre Beute im Meer mit körpereigenem Gift töten, faszinieren Mediziner ganz besonders. Jede Art produziert einen anderen Gift-Cocktail, der sich aus verschiedenen kleinen Eiweißmolekülen (Peptiden) zusammensetzt. Diese Gifte blockieren die elektrischen Signale an Muskel- und Nervenzellen bei Tieren und Menschen und lähmen auf diese Weise. Nach Angaben der Harvard-Forscher produzieren die 700 bisher bekannten Kegelschneckenarten insgesamt etwa 140 000 verschiedene Peptide.

Von diesen Stoffen werden derzeit 100 auf ihre Wirkung als Schmerzmittel und zum Schutz von Nervenzellen bei Schlaganfall und Herzinfarkt getestet. Ob weitere Peptide der Kegelschnecken im Labor und später in einer Apotheke landen, hängt auch vom Überleben der Schnecken ab. Sie sind in tropischen Korallenriffen zu Hause, die zu den am meisten bedrohten Ökosystemen der Erde gehören.

Die Mehrheit aller verschreibungspflichtigen Medikamente in Industrieländern wird aus pflanzlichen oder tierischen Substanzen sowie von Mikroben gewonnen, schreibt das Harvard-Team in "How Our Health Depends On Biodiversity" (Wie unsere Gesundheit von der biologischen Vielfalt abhängt). Darunter sind etablierte Mittel wie Morphine aus Schlafmohn, das Schmerzmittel ASS (Acetylsalicylsäure) aus der Silberweide und die Krebsbekämpfer Vinblastin und Vincristin aus Madagaskar-Immergrün. Von einer Viper stammen die blutdrucksenkenden ACE-Hemmer. Von Stoffen eines Meeresschwammes kopierten Pharmakologen das Mittel AZT gegen den Aidserreger HIV. Und ohne Mikroben gäbe es weder Antibiotika wie Penizillin noch die als Statine bekannten Cholesterinsenker. (dpa)