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Die Europäische Union und Island verhandeln über den Beitritt der subarktischen Inselrepublik Von den Schmerzen auf den letzten Kilometern eines politischen Marathons

22.09.2010, 04:14

Von Gerald Semkat

Wäre das EU-Aufnahmeverfahren ein Marathonlauf, dann hätte Island bereits 40 Kilometer absolviert, sagte EU-Kommissar Olli Rehn, nachdem das Parlament der Inselrepublik im Juli 2009 mit 33 von 63 Stimmen für einen Antrag zur Aufnahme des Landes in die Europäische Union gestimmt hatte. Die offiziellen Beitrittsverhandlungen laufen seit dem 27. Juli 2010.

Im Herbst 2008 hatte die Finanzkrise diesen nordatlantischen Staat an den Rand des Bankrotts geschleudert, was die 317 000 Einwohner deutlich mit steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden Realeinkommen und starker Verschuldung der öffentlichen Hauhalte zu spüren bekamen. Eine Chance auf Neuorientierung lag in der raschen und massiven internationalen Finanzhilfe. In dieser Lange wollte Olli Rehn mit seinem Marathonvergleich wohl etwas Optimismus versprühen.

Ein bloßer Rettungsanker war dieser Aufnahmeantrag in die EU nicht. Das Land ist ein bedeutender Exporteur von Fisch und Fischprodukten. Isländische Fischer fangen 1,7 Millionen Tonnen Fisch im Jahr. Zum Vergleich: in Europa sind es 4,7 Millionen Tonnen.

Bedeutend ist die Produktion von Aluminium, die sehr energieaufwändig ist – und in Island ist so ziemlich alles teuer, nur Energie nicht. Energie gibt es in dem Land der heißen Quellen und Vulkane im Überfluss – und mittels der mehr als 20 Geothermalkraftwerke wird grüner Strom erzeugt. Zudem ist es für die EU aus geopolitischer Sicht durchaus von Interesse, ihren Einflussbereich in die subarktische Region auszuweiten.

Etliche isländische EU-Befürworter sehen im Beitritt das Tor zum Euro und Wirtschaftsminister Gylfi Magnússon nennt vor deutschen Journalisten die Isländische Krone eine unbrauchbare ("useless") Währung. Das bezieht sich nicht nur auf die starken Beschränkungen wegen der Krise, ihr Geltungsbereich ist zu klein, um groß aufzuspielen. Als Euro-Land jedoch würde Island von der Kraft Europas profitieren, argumentieren etwa die seit April 2009 mit der Linken/Grünen regierenden Sozialdemokraten, die als einzige Partei ungeteilt für den EU-Beitritt eintritt.

Das Land gehört seit 2000 zum Schengen-Raum der EU. Und über den europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dem Island seit 1994 angehört, nimmt die Inselrepublik heute bereits am EU-Binnenmarkt teil. Mit der EWR-Mitgliedschaft sind denn auch 21 der insgesamt 33 Verhandlungskapitel für den EU-Beitritt ganz oder teilweise abgedeckt, wie Stefán Haukur Johannesson, isländischer Chefunterhändler für den EU-Beitritt, vor deutschen Journalisten in Reykjavik sagte. Das sind u.a. Pluspunkte für Demokratie, für Menschenrechte, für geringe Korruption, für die Unabhängigkeit der Justiz und für das hohe Bildungsniveau. Auch trotz der Krise gilt Island als funktionierende Marktwirtschaft. Gemessen an solchen Voraussetzungen kann man Island nicht vergleichen mit jenen 15 Staaten, die in den vergangenen Jahren quasi in einem politischen Gewaltakt in die EU katapultiert worden sind.

Und noch etwas: Abgesehen von den Sozialdemokraten sind alle isländischen Parteien in der Frage des EU-Beitritts mehr oder weniger gespalten. Wenn sich auch Ragnheidur E. Árnadóttir, Vorsitzende der liberal-konservativen Opposition im Parlament, in der vergangenen Woche optimistisch zeigte, dass sich im Parlament eine Mehrheit für die Aussetzung der Gespräche über eine EU-Aufnahme finden würde, so machten andere Politiker und Wirtschaftsvertreter deutlich, dass sie ihre Interessen gewahrt sehen wollen. Sie sagen: Lasst uns verhandeln und das Ergebnis analysieren und dann soll das Volk abstimmen.

Aktuellen Umfragen zufolge sollen etwa 40 Prozent der Isländer gegen den EU-Beitritt sein. Ihre Hauptargumente: Die hochleistungsfähige, profitable und unsubventionierte Fischerei ist ein Rückgrat der isländischen Wirtschaft. Sie werde durch einen EU-Beitritt deutlich geschwächt, was auch Arbeitsplätze kostet. Und den in der EU nicht erlaubten Walfang wollen sich isländische Fischer auch nicht verbieten lassen. Zudem mache die EU-Agrarpolitik die isländischen Molkereien und den Anbau von Gurken, Tomaten und Paprika in Gewächshäusern kurz vor dem Polarkreis unprofitabel. Immerhin handelt es sich allein in der Landwirtschaft um 3000 direkt Beschäftigte.

Olli Rehn, von November 2004 bis Februar 2010 EU-Erweiterungskommissar und jetzt EU-Wirtschaftskommissar, ist wohl noch nie einen Marathon gelaufen. Dann hätte der Finne nämlich wissen müssen, dass gerade auf dem letzten Stück der insgesamt 42,195 Kilometer die Muskeln schmerzen und die Gelenke wehtun. So werden denn die Verhandlungen, die bis 2012 dauern sollen, für beide Seiten nicht schmerzfrei sein. Und danach kommen die Volksabstimmung und der Ratifikationsprozess in den 27 EU-Mitgliedsländern. Auf den letzten Kilometern des Aufnahme-Marathons kann also noch allerhand passieren.