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Über die Abschaffung des Numerus clausus in der Medizin Röslers Ideen sind realitätsfern

13.04.2010, 05:20

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 12.04.2010 22:00:00


Von Serban-Dan Costa

Gesundheitsminister Dr. Philipp Rösler hat vorgeschlagen, den Numerus clausus abzuschaffen, um mehr Studenten ein Medizinstudium zu ermöglichen und so Ärztemangel in Deutschland nachhaltig zu bekämpfen. Leider haben sich bei diesem Vorhaben einige Denkfehler eingeschlichen. Als Hochschullehrer betrachte ich es als meine Pflicht, sie anzusprechen.

Um in Deutschland Medizin zu studieren, muss man in erster Linie eine sehr gute Note im Abitur haben. Der zu erreichende Schnitt lag zuletzt bei 1,4. Das gelingt deutlich weniger als 10 Prozent aller Schüler. Folglich dürfte der Vorschlag eines Politikers, diese Beschränkung zu lockern, bei vielleicht 90 Prozent aller Schüler und deren Eltern auf Zustimmung stoßen. Es entsteht der Eindruck, dass endlich die Bastion der Medizin gestürmt werden soll und das ganze Volk wittert Revolutions-Luft.

Ein weitverbreiteter Glaube, nämlich dass "nicht jeder Einser-Abiturient ein guter Arzt wird", wird von mehreren Politikern einschließlich vom Ärztepräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe bestätigt. Daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass jeder Abiturient mit einer Note zwischen 2 und 4 im Abschlusszeugnis ein sehr guter Arzt wird. Da sind wohl doch leise Zweifel erlaubt …

Zu viele Studenten, zu wenig Ausbilder

In allen 36 medizinischen Fakultäten dieses Landes besteht ein großes Ausbildungsproblem, unter dem Studenten und Dozenten seit Jahrzehnten gemeinsam leiden: Es gibt zu viele Medizinstudenten und zu wenig Ausbilder (Professoren, Dozenten, Hochschulassistenten). Praktisch in jeder Fakultät sind etwa 200 Studenten pro Jahr eingeschrieben und der einzig sinnvolle Unterricht, nämlich derjenige in kleinen Gruppen, ist nach wie vor ein unerfüllbarer Traum.

Während in den erfolgreichsten Medizinfakultäten der Welt, in Großbritannien und den USA, jeder Professor maximal 5-10 Studenten unterrichtet, müssen wir uns in große Vorlesungssäle begeben, in denen sich eben bis zu 200 Studenten anhören, was der Professor so zu sagen hat.

In den angelsächsischen Ländern gibt es nicht weniger Medizinstudenten als bei uns, sondern eine vielfach höhere Zahl an Professoren pro Fachbereich. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: An der University of Florida in Gainesville/USA gab es in der Frauenheilkunde 10 Professoren, bei uns in Magdeburg gibt es zwei. Dem Vorschlag zu folgen, mehr Studenten zuzulassen, damit eben mehr Ärzte ausgebildet werden, würde bei uns dazu führen, dass statt etwa 200 vielleicht 250 oder 300 Studenten pro Jahrgang studieren.

Mehr Medizinstudenten zuzulassen, müsste bedeuten, dass wir deutlich mehr Dozenten und Professoren, mehr Hörsäle und mehr Lehrmaterial brauchen, um zumindest das jetzige Niveau zu halten. Das kostet ziemlich viel Geld, allein in Magdeburg wären ein paar Millionen jährlich nötig. Wenn man gleichzeitig die Ausbildungssituation verbessern möchte, wäre das noch teurer. Das war aber nicht das Thema, leider.

Die Studentenzahlen kann man nur erhöhen, wenn man die sogenannte "Kapazitätsverordnung" abschafft bzw. anders gestaltet. Die Kapazitätsverordnung legt fest, wie viele Studenten pro Medizinfakultät zugelassen werden dürfen, in Abhängigkeit von Ausbildern und Ausbildungsplätzen. Jedes Jahr klagen aufnahmewillige Studenten gegen die Medizinfakultäten und versuchen, die jeweils festgelegte Kapazität infrage zu stellen. Fast immer "gewinnt" die Fakultät – weil die Kapazität bereits erreicht ist und wir nicht mehr Studenten aufnehmen dürfen.

Noch ein kleines Problem am Rande: Einer Studie der Universität Bochum zufolge wollen nur 19 (!) Prozent der Medizinstudenten als Ärzte in Deutschland arbeiten. Warum? Weil die Arbeit als Arzt unattraktiv, bürokratisch, familienfeindlich und die Bezahlung schlecht ist. Das meinen zumindest die Studenten. Woher nehmen sie das bloß?!

Ärztemangel in Deutschland?

Was der Minister oder seine Berater nicht wissen, ist, dass seit einigen Jahren jede Universität einen Teil der Studenten durch Aufnahmegespräche und Tests zum Studium zulässt – auch wenn sie im Abitur den geforderten Durchschnitt nicht erreicht haben. Zahlreiche Auswertungen zeigen, dass diese Studenten im Vergleich zu den Numerus-clausus-Studenten wesentlich länger studieren und häufiger das Studium abbrechen, weil sie die Zwischenprüfungen nicht schaffen. Der Beweis, dass aus ihnen bessere Ärzte als aus den vormals sehr guten Schülern werden, kann nicht erbracht werden, weil sehr viele das Studium gar nicht beenden.

Eine OECD-Studie zählte 2006 in Deutschland 34 Ärzte pro 10 000 Einwohner. Mit dieser Arztdichte liegen wir in Europa hinter Griechenland (49), Belgien (40) und der Schweiz (38), aber vor vielen anderen Ländern. Wie man auf die Idee kommt, dass es in Deutschland zu wenige Ärzte gibt, entzieht sich jeglicher Statistik und Logik. Beweise, dass es in Deutschland mehr Kranke als woanders gäbe oder dass durch eine Steigerung der Arztdichte eine bessere medizinische Versorgung erzielt werden könnte, gibt es nicht.

Einen Ärztemangel gibt es in keiner Stadt der Bundesrepublik. Die Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigungen, die mehrmals jährlich veröffentlicht werden, sprechen eine deutliche Sprache – allein in Magdeburg gibt es eine Überversorgung mit Ärzten in allen Fachdisziplinen.

Dass man bei Ärzten in der Praxis keine Termine bekommt, hat eine einzige Ursache: Ärzte sind an Budgets gebunden, sobald diese erreicht worden sind, müssten sie Patienten behandeln, ohne dass die Krankenkasse dafür bezahlt. Wenn man die Budgets abschafft und jeder Arzt so viele Patienten behandeln darf, wie er kann und er seine Arbeit auch vergütet bekommt, gibt es keine Wartezeiten mehr. Wetten?

Bekanntlich haben wir in Deutschland zu viele Krankenhausbetten und zu viele Krankenhäuser. Im vergangenen Jahrzehnt sind viele Krankenhäuser geschlossen worden. Experten schätzen, dass bis zum Jahr 2020 bis zu 2000 weitere Krankenhäuser geschlossen werden müssen. Das hängt mitnichten damit zusammen, dass es nicht genug Ärzte gibt, sondern vielmehr damit, dass zahlreiche medizinische Maßnahmen ambulant, also in Praxen und ohne die Notwendigkeit einer Übernachtung im Krankenhaus durchgeführt werden können. Es ist also der medizinische Fortschritt, der dazu führt und nicht ein Engpass bei den Ärztezahlen.

Wenn die Bevölkerung der Bundesrepublik weiterhin abnimmt, werden wir in Zukunft auch weniger Krankenhäuser und Ärzte brauchen, auch wenn gleichzeitig mehr ältere Menschen im Lande leben, die häufiger ärztlich behandelt werden müssen.

Ein tatsächlicher Mangel an Ärzten zeichnet sich jedoch in ländlichen Gebieten ab – in unserem Falle kann man die Altmark nennen, aber in jedem Bundesland ist die Situation auf dem Lande ähnlich.

Die Ursachen sind ziemlich einfach zu erklären. Auf dem Lande leben immer weniger Menschen und der Bevölkerungsrückgang hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Dementsprechend braucht man einerseits weniger Ärzte, aber ein wesentlicher Faktor ist, dass die Arbeit der Hausärzte auf dem Land allmählich unerträglich wird. Alle Hausärzte verdienen auf dem Land deutlich weniger als in jeder Stadt, Honorare um 2000 bis 3000 Euro monatlich sind keine Seltenheit. Das bekommen sie für 12-14 Stunden Arbeit täglich, Dauerrufbereitschaft, Hausbesuche bei Wind und Wetter, lebenslange Pflicht, sich fortzubilden, usw. Von der Verantwortung ganz abgesehen.

In Unkenntnis über die Zukunft entscheiden?

"Kinder lobt man, Erwachsene bezahlt man" sagte mir neulich ein Freund. Über eine bessere Bezahlung der Ärzte auf dem Lande habe ich kein Wort von Minister Rösler gehört. Auch wenn das Honorar nicht das einzige Problem ist.

"Die Arbeit als Hausarzt auf dem Land soll attraktiver werden", sagt Minister Dr. Rösler. Als Lösungen sollen nicht die Probleme selbst angegangen werden, sondern die Studenten sollen sich zu Beginn des Studiums verpflichten, aufs Land zu ziehen und dort als Hausärzte zu arbeiten. Weiter gedacht müsste Dr. Rösler auch sagen: "zu den gleichen Konditionen wie heute". Das klingt nicht besonders einladend, oder? Wie soll das gehen?

Neulich fragte ich Studenten im 4. Ausbildungsjahr (also zwei Jahre vor Ende des Studiums), in welchem Fach sie künftig tätig sein wollen. 75 Prozent der Studenten sagten, dass könnten sie noch nicht wissen, weil sie etliche klinische Fächer noch gar nicht kennengelernt haben.

Aber wie soll dann erst ein angehender Student, der noch keine einzige medizinische Disziplin kennengelernt hat, festlegen, in welcher Fachrichtung er nach sechs Jahren Studium tätig sein möchte?

*

Durch die Abschaffung des Numerus clausus als Zugangsberechtigung für ein Medizinstudium werden keinerlei Probleme gelöst. An unseren medizinischen Fakultäten gibt es viele Medizinstudenten und wenig Ausbilder. Die Ausbildung ist nicht gut, das sagen übereinstimmend Studenten und Dozenten seit vielen Jahren. Mehr Studenten ohne eine Erhöhung der Anzahl der Ausbilder wäre eine Katastrophe. Wir bräuchten hohe Investitionen für Personal und Infrastruktur, um die jetzige Ausbildung zu verbessern und noch mehr, wenn wir die Anzahl der Medizinstudenten erhöhen.

Einen Ärztemangel gibt es in Deutschland nicht, und es wird ihn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch niemals geben. Der sich abzeichnende Ärztemangel auf dem Lande hat allein damit zu tun, dass dort Arbeitsbedingungen und die Bezahlung noch schlechter sind als in den Städten.

Durch populistische und realitätsfremde Vorschläge à la "Abschaffung des Numerus clausus" kann man vielleicht als Politiker in Umfragen punkten, aber nichts Sinnvolles erreichen. Dabei hatte ich mich gefreut, dass endlich ein Arzt das Gesundheitsministerium leitet, der "es wissen müsste".

Prof. Dr. Dr. Serban-Dan Costa ist Direktor der Universitäts-Frauenklinik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.