1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Bilanz nach den ersten 100 Tagen: Schwarz-Gelb sucht den roten Faden

Die Bundesregierung aus Union und FDP ist morgen 100 Tage im Amt Bilanz nach den ersten 100 Tagen: Schwarz-Gelb sucht den roten Faden

03.02.2010, 05:03

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 02.02.2010 23:00:00


Wochenlange Debatte über Steuersenkungen, Kundus-Affäre und Streit um den Kurs in der Gesundheitspolitik: Die "Wunschkoalition" von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und FDP-Chef Guido Westerwelle hatte einen Start mit mehr Tiefen als Höhen. Schwarz-Gelb ist noch auf der Suche nach dem roten Faden. Wie haben sich die einzelnen Mitglieder des Kabinetts in den ersten 100 Tagen präsentiert?

KANZLERIN ANGELA MERKEL (CDU): Führt ihre Wunschregierung im Wesentlichen wie zuvor die Große Koalition – sie hielt sich bei internem Streit erst einmal raus. Dann sprach die Parteivorsitzende mit den Chefs von CSU und FDP, Horst Seehofer und Westerwelle, Tacheles. Noch vor Ablauf der 100-Tage-Schonfrist vereinbarten die Wunschpartner einen Neustart. Den eigentlichen Fehler hat Merkel nach Ansicht von Beobachtern mit dem Koalitionsvertrag gemacht. Der sei bei heiklen Themen wie der Steuerpolitik unpräzise. Im Glauben, mit der FDP würden Schwierigkeiten leichter zu überwinden sein, habe sie zu große Kompromisse zugelassen.

Außenminister GUIDO WESTERWELLE (FDP): Der Außenminister bewies in den ersten 100 Tagen, dass er durchaus diplomatisch sein kann. Viel unterwegs (27 Länder), mit den meisten ausländischen Kollegen schon per Du, noch ohne große Krise. Er verspricht Kontinuität, setzte aber auch schon erste Akzente, zum Beispiel in der Afghanistan-Debatte. Dauerärger gab es mit dem Koalitionspartner wegen Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach. Lob kommt aus der Fachwelt, Westerwelle ist aber immer noch weit von den Beliebtheitswerten der Vorgänger entfernt. Bester Spruch: "Ich bin hier nicht als Tourist in kurzen Hosen unterwegs, sondern als deutscher Außenminister. Das, was ich sage, zählt."

Innenminister THOMAS DE MAIZIÈRE (CDU): Terrorgefahr und eine Debatte über Flugsicherheit bestimmten die öffentliche Debatte in den ersten Monaten des neuen Innenministers. Während Parteikollegen nach dem Einsatz umstrittener Körperscanner auf Flughäfen riefen, formulierte de Maizière enge Bedingungen für den Einsatz der neuen Technik. Vor allem müsse die Intimsphäre der Passagiere gewahrt bleiben. Einen "Nacktscanner" werde es mit ihm nicht geben. Schwierige Gespräche stehen ihm in den Tarifverhandlungen zum Öffentlichen Dienst bevor. Hier forderte er die Gewerkschaften angesichts leerer Kassen zur "maßvollen Lohnpolitik" auf – was diese naturgemäß anders sehen.

Justizministerin SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER (FDP): Beim umstrittenen Thema Kinderporno-Sperren im Internet setzte die Justizministerin durch, dass die Sperren zunächst nicht in Kraft treten. FDP, Linke und Grüne wollen das Gesetz, das auf eine Initiative der damaligen CDU- Familienministerin Ursula von der Leyen zurückgeht, nun ganz kippen. Eine große Schlappe wirft die Opposition der Ministerin beim "Swift"- Abkommen vor. Bei der Abstimmung in Brüssel enthielt sich Deutschland und machte das Abkommen so möglich - obwohl die FDP eigentlich gegen Swift ist. Deshalb dürfen US-Sicherheitsbehörden im Anti-Terror-Kampf weiter Geldüberweisungen zwischen EU und Drittstaaten kontrollieren.

Finanzminister WOLFGANG SCHÄUBLE (CDU): Die erste wirkliche Bewährungsprobe hat der Finanzminister noch vor sich. Nach der Mai-Steuerschätzung soll über den Umfang und Zeitplan weiterer Steuersenkungen entschieden werden. Zugleich will der 67-Jährige bis zum Sommer den Sparkurs ab 2011 vorlegen. Es geht nach Rekordschulden in diesem Jahr um eines der größten Sparpakete in der bundesdeutschen Geschichte. Bisher hat der erfahrenste Politiker am Kabinettstisch klargemacht, dass er es ernst meint. Das erste Steuerpaket hat Schäuble – trotz der Zweifel am Hotel-Steuerbonus – mitgetragen. Gegen überzogene Banker-Boni hat sein Haus weitere Schritte eingeleitet.

Wirtschaftsminister RAINER BRÜDERLE, (FDP): Der Minister ist nach einem durchwachsenen Start dabei, sein Profil zu schärfen. Mit einem härteren Kartellrecht will er großen Konzernen auf die Finger klopfen. Zur Freude vieler kleiner Firmen hat er den Mittelstand zum Kernthema seiner Politik gemacht. Für die Opposition ist Brüderle eine Fehlbesetzung. Statt Rezepte gegen die Krise zu präsentieren, ziehe er als "Dampfplauderer" durchs Land. Tatsächlich muss Brüderle aufpassen, dass sein Ruf als erfahrener Wirtschaftspolitiker nicht durch allzu platte Sprüche – wie "Erst grübeln, dann dübeln" oder "Wir müssen eine Schippe drauflegen" - leidet.

Arbeitsministerin URSULA VON DER LEYEN, CDU: Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales kam erst Ende November ins Amt – als Nachfolgerin für den zurückgetretenen Franz Josef Jung. Zunächst Familienministerin, ist sie damit deutlich weniger als 100 Tage im Amt. Bis zum Sommer muss sie ihr wichtigstes Projekt – die Umorganisation der Jobcenter – über die parlamentarischen Hürden bringen. Noch 2009 war daran ihr Vor-Vorgänger Olaf Scholz (SPD) gescheitert – am Widerstand der CDU- Fraktionsspitze. Die für eine Neuregelung vom Verfassungsgericht gesetzte Frist läuft Ende 2010 ab. Noch ist unklar, ob es von der Leyen gelingt, die Länder für ihr Konzept zur Betreuung der Hartz-IV-Empfänger zu gewinnen.

Verbraucherministerin ILSE AIGNER (CSU): Die Ministerin fordert mehr Rechte für Bankkunden bei Geldanlagen und macht dies zu einem Schwerpunkt ihrer Politik. Allerdings hat Aigner für das Thema nicht die Federführung. 2009 schob sie ein Sonderprogramm für Bauern an, das bis 2011 Finanzhilfen bringen soll. Zur Grünen Woche brachte sie das Thema Klimaschutz in der Landwirtschaft auf die Agenda. Aigner will ihr Haus in ihrer zweiten Amtszeit neu ordnen – die Abberufung von Agrarstaatssekretär Gert Lindemann stieß allerdings in Fachkreisen auf Verwunderung. Für Wirbel sorgte Aigners heftige Kritik an den Plänen der Krankenkassen für Zusatzbeiträge zum 1. Februar 2010.

Verteidigungsminister KARL-THEODOR ZU GUTTENBERG (CSU): Zwei Worte waren es, die dem Image des Verteidigungsministers Kratzer zugefügt haben. Es ist bis heute sein Geheimnis, warum er am 6. November den Luftschlag von Kundus zunächst als "militärisch angemessen" bewertete. Auch die Entlassung von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan ist umstritten, da er dem General vorwarf, Berichte zum Angriff unterschlagen zu haben. Schneiderhan betont, Guttenberg sage die Unwahrheit. Der Franke versuchte, durch Besuche in Afghanistan das Vertrauen der Truppe zu gewinnen. Mit einer Reform will er zudem die Strukturen der Bundeswehr den zunehmenden Auslandseinsätzen anpassen.

Familienministerin KRISTINA KÖHLER (CDU): Die 32-jährige Ministerin hat sich bislang darüber ausgeschwiegen, welche Schwerpunkte sie in dieser Wahlperiode setzen will – nachdem Amtsvorgängerin Ursula von der Leyen (CDU) in den vergangenen vier Jahren die beiden Großprojekte Elterngeld und Kita-Ausbau auf den Weg gebracht hat. Zuletzt wurden erste Konturen von Köhlers Planungen deutlich: Um Seniorenpolitik will sie sich verstärkt kümmern, die Vätermonate beim Elterngeld sollen von zwei auf vier ausgeweitet werden. Auch will sie nicht nur Initiativen gegen Rechtsextremismus fördern – sondern auch gegen Linksextremismus und Islamismus. Zunächst steht im Februar für die kinderlose Familienministerin ein großes privates Vorhaben an: Die Hochzeit mit Ole Schröder, Staatssekretär im Innenministerium.

Gesundheitsminister PHILIPP RÖSLER (FDP): Der Gesundheitsminister ist mit großen Erwartungen gestartet – weil der in Vietnam geborene Katholik ein neues Profil mitbringt und den Freidemokraten ein sozialeres Gesicht geben will. Doch seither wächst die Kritik. Über die angekündigte große Reform der gesetzlichen Kassen gibt es kaum Klarheit. Rösler betont, das System gerechter machen zu wollen. Ob die FDP den Plan einer Gesundheitspauschale mit Sozialausgleich durchsetzen kann, ist angesichts von Widerständen in der Union und Haushaltsnöten fraglich.

Verkehrsminister PETER RAMSAUER (CSU): Der Verkehrsminister überraschte als Autoliebhaber mit einem Bekenntnis zur Bahn, die den dramatisch wachsenden Güterverkehr aufnehmen solle. Auch wenn die Teilprivatisierung der Bahn nicht so sehr seine Sache ist, will er bei besserer Börsenlage dazu stehen. Kaum im Amt, rührte er Reizthemen an. Erste Hinweise auf die Einführung einer Pkw-Maut wirbelten Staub auf, genau wie eine Äußerung über "Nachholbedarf" in Westdeutschland gegenüber dem Osten bei der Versorgung mit Autobahnen und Bahnverkehr. Ramsauer muss sich auf die schwierige Finanzierung der Verkehrsinvestitionen konzentrieren.

Umweltminister NORBERT RÖTTGEN (CDU): Mit einem Paukenschlag begann der Umweltminister: In einem ungewöhnlichen Appell flehte der Vertraute von Kanzlerin Merkel die Koalition an, Klima-Verantwortung zum Erhalt von Gottes "Schöpfung" zu übernehmen. Auch der Wirtschaftsflügel sollte den Abbau von Kohlendioxid bedingungslos mittragen. Der gescheiterte Klima-Gipfel von Kopenhagen zeigte Röttgens Grenzen auf. Seine Mammut-Aufgabe ist ein nationales Energiekonzept 2010, bei dem er sichere Atomkraftwerke nur solange länger als 2022 laufen lassen will, wie die Stromversorgung fast allein durch Ökoenergie gesichert werden kann. Großer Streit kommt auf Röttgen beim Thema Kohle zu.

Bildungsministerin ANNETTE SCHAVAN (CDU): Die Ministerin hat sich für 2010 viel vorgenommen. Dazu gehören ein "Bologna-Gipfel" mit Ländern und Hochschulen zur Reform der umstrittenen Bachelor-Studiengänge im April, eine Bafög-Erhöhung im Oktober und der Start eines mehrere hundert Millionen Euro teuren Stipendienprogramms. Zugleich steht Schavan beim dritten Bildungsgipfel im Juni mit im Wort, dass der Bund seine Milliarden-Zusagen einhält. Denn über allem schwebt wie ein Damokles-Schwert die von Finanzminister Wolfgang Schäuble angedrohte Einsparliste, die der Kassenwart aber erst nach der Steuerschätzung und der NRW-Landtagswahl im Mai vorlegen will.

Entwicklungsminister DIRK NIEBEL (FDP): Als Generalsekretär hatte Niebel ein Wahlprogramm zu verantworten, das das Entwicklungsministerium dem Auswärtigen Amt zuschlagen wollte. Das ließ sich nicht durchsetzen, und als das Ressort in FDP-Hände kam, musste Niebel selbst ran. Groß waren die Vorbehalte gegen den neuen Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Und die Bedenken wuchsen noch, als Niebel ankündigte, die Wirtschaft mehr in die Entwicklungs-Zusammenarbeit einbinden und eine engere Kooperation von Helfern und Bundeswehr vor Ort durchsetzen zu wollen. Wider Erwarten konnte er bei seiner Afrika-Reise im Januar einige Vorbehalte ausräumen. (dpa)