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Erhellendes über Margot Honecker und den Sturz ihres Mannes in einer NDR-Dokumentationden Gefangen im DDR-Elfenbeinturm

Von Steffen Honig 04.04.2012, 05:18

Verrat, Verrat tönt es am Montagabend via ARD aus dem fernen Chile. Verraten von Freund und Feind fühlt sich eine bekannte Greisin: Margot Honecker, früher erste Frau im Staate DDR, im Volksmund wegen violetter Haartönung auch lilabunte Milka-Kuh genannt.
Die 84-Jährige lebt in Santiago von 1500 Euro Rente, wovon sie noch ihre arbeitslose Tochter und den Enkel unterstützt. Es sei zu wenig für das Leben im kapitalistischen chilenischen Alltag, beklagt Margot Honecker und versteht das als Schikane durch den bundesdeutschen Staat.
Geistig lebt sie vor allem in einer von ihr verklärten Vergangenheit. Daher prallen Fragen nach ihrer persönlichen Verantwortung für Zwangsadoptionen und geschlossene Jugendwerkhöfe von Frau Honecker ab. Niemand "brauchte über die Mauer zu klettern", erklärt sie zudem und verneint die Existenz eines Schießbefehls an der Grenze. Dass die Wirtschaft der DDR marode war, sei "nicht wahr" behauptet sie.
Die Originaltöne der Gattin des gewesenen Generalsekretärs des ZK der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, lösen Kopfschütteln und Bestürzung aus. Sie sind ein entscheidendes Element der NDR-Dokumentation "Der Sturz - Honeckers Ende" von Eric Friedler.
Ihre Realitätsferne kulminiert in dem Satz: "In 20 Jahren hätten wir große Veränderungen in der DDR vorgenommen." Das ist Altersstarrsinn gepaart mit Selbstüberschätzung, die sich aus ihrem früheren Leben im Elfenbeinturm des Politbüro-Ghettos Wandlitz ergibt. Neben der offenen Frage, was dann noch von der Substanz der DDR übrig gewesen wäre, geht Margot Honecker selbstverständlich davon aus, dass sie weitere Jahrzehnte auf dem Thron gesessen hätte.
Denn die DDR war eine Diktatur mit absolutistischen Zügen. Margot Honecker bekleidete 26 Jahre (!) das Amt der Ministerin für Volksbildung, fast so lange, wie der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. an der Macht war.
Als Bildungsfürstin herrschte Frau Honecker über ein Schulsystem, das in seiner Struktur durchaus schlüssig und effektiv war. Doch das gesamte Bildungswesen war, was auch im Film benannt wird, darauf ausgerichtet, sozialistische Persönlichkeiten zu produzieren. Das hatten die Lehrer umzusetzen, die Schüler hatten zu spuren. Und wehe nicht: Dann konnten die Betroffenen die Machtmaschinerie der DDR schmerzlich kennenlernen.
Die Volksbildungsministerin war verantwortlich dafür, dass für das Bildungsziel Inhalte speziell in den schöngeistigen Fächern zurechtgeschnitten, verdreht oder gar gefälscht wurden. Außerdem wurde durch sie die Militarisierung der Schule exzessiv vorangetrieben. Wehrkundeunterricht war in den Endjahren der DDR ein Pflichtfach. Darin besteht die eigentliche Schuld der Margot Honecker, die freilich nicht strafrechtlich zu fassen ist.
So kann die aus Halle/Saale stammende Greisin heute in Chile unbehelligt das Geschehen in Deutschland über Zeitungen und Internet durch ihre Brille betrachten. Zitat: "Die Banditen, die die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen, werden dafür bezahlt."
Richtig spannend ist der Dokumentarfilm, als er die dramatische Phase für die Familie Honecker nach dem Sturz des Partei- und Staatschefs im Oktober 1989 ausleuchtet. Auf einmal war das ehedem führende Paar des Landes Freiwild ohne Schutz und Obdach. Den Honeckers drohte Lynchjustiz. Es gehört zur Sternstunde, die die Kirchen der DDR in der Wendezeit erlebten, dass die Honeckers ausgerechnet bei Pfarrer Uwe Holmer und seiner Familie im brandenburgischen Lobetal unterkamen.
Die DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow ließ die Honeckers im Stich. Und nach Rückkehr aus dem Exil in der Sowjetunion landete Erich Honecker im neuen Deutschland im Knast von Berlin-Moabit, wo ihn einst die Nazis eingesperrt hatten. Er durfte schließlich zu seiner Familie nach Chile ausreisen, wo er 1994 mit 92 Jahren starb.
Ein Einschub zum Verhältnis Modrow-Honecker, auf das der Film nicht eingeht, ist wichtig: Beide kannten sich gut seit sie in der Nachkriegszeit die FDJ mit aufgebaut hatten. Die Wege trennten sich: Der karrierebewusste Honecker war spätestens seit dem von ihm organisierten Mauerbau der potenzielle Ulbricht-Nachfolger, während Modrow sich eine eigene Sicht bewahrte, was ihm im Westen später den Ruf eines Reformers einbrachte. Als Honecker an der Macht war, schob er Modrow als 1. SED-Bezirkssekretär nach Dresden ab. Modrow hatte wenig Veranlassung, sich herzlich der Honeckers anzunehmen.
Hans Modrow, einer der zahlreichen adäquaten Zeitzeugen in der Dokumentation von Helmut Schmidt bis zu Michail Gorbatschow, zieht sich heute darauf zurück, dass das Problem Honecker in seiner Zeit als Regierungschef nicht "prioritär" gewesen sei. Egon Krenz, der Honecker stürzte, wirkt wie das personifizierte schlechte Gewissen, wenn er auf seinen Vorgänger angesprochen wird. Der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel gibt immerhin zu, dass man Honecker in den Umbruchzeiten besser hätte schützen müssen.
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt braucht für eine Einschätzung Honeckers, an dessen Seite er unter anderem 1975 die Helsinki-Schlussakte unterzeichnete, nur wenige Worte: "Er war nicht sonderlich intelligent, hatte keinen Überblick über die Welt als Ganzes." Schmidt stellt vor der Kamera auch die Behauptung auf, er persönlich habe Honecker empfohlen zurückzutreten, "ehe andere Sie zurücktreten". Das überrascht. Denn bei einem anderen DDR-Funktionär war Schmidt weniger weitsichtig, als er erklärte, dass er sich den DDR-Wirtschaftsboss Günther Mittag durchaus in seinem Kabinett vorstellen könne.
Das mediale DDR-Erinnerungswesen floriert - mit augenfälligen Ähnlichkeiten zur Flut von Filmen, Büchern und Zeitungsbeiträgen über Wesen und Untergang des Dritten Reiches.
"Der Sturz" gehört da zu den wertvolleren Beiträgen. Die Dokumentation ist dazu angetan, die häufig als mangelhaft geltende schulische Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu bereichern.