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Viele Selbständige sind auf ergänzende Transferleistungen angewiesen Unternehmertum zwischen Designerjeans und Hartz IV

Von Alexandra Stahl 11.12.2010, 04:27

Ein Unternehmer ist unabhängig und hat keine Geldnöte – sollte man meinen. Es gibt aber auch jede Menge Selbständige, die von Sozialhilfe leben. Betroffen sind häufig Kleinst-Unternehmer, vom Kioskbetreiber über den Feinkostladen-Besitzer bis hin zur Theaterpädagogin.

Münster (dpa). "Solche Unternehmer switchen zwischen Hartz IV und unternehmerischem Erfolg", sagt die Soziologie-Professorin Andrea Bührmann von der Universität Münster.

Sie hat die "Prekarisierung" des Unternehmertums erforscht. Der Begriff "prekär" stammt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie "heikel" oder "unsicher". "Man kann davon ausgehen, dass prekäres Unternehmertum unter den Solo-Selbständigen sehr verbreitet ist", sagt Bührmann.

Das beobachtet auch die ARGE in Münster. Unter den armen Chefs seien vor allem Einzelkämpfer, die ohne Angestellte arbeiteten – etwa Grafiker oder Handelsvertreter. Auch in der Gastronomie sei prekäres Unternehmertum weit verbreitet. "Bei manchen bleibt am Ende weniger als bei einem 400-Euro-Job übrig", sagt Andreas Tiggemann von der Arbeitsgemeinschaft Münster.

Deutschlandweit gab es im vergangenen Jahr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mehr als vier Millionen Selbständige. Laut Agentur für Arbeit beziehen derzeit 128 000 der Freiberufler Hartz IV – das sind fast so viele Menschen wie in der Stadt Würzburg leben. Als Hauptstadt des Prekariats gilt Berlin. "Hier waren 2007 allein 8402 Selbständige auf ergänzende Transferzahlungen angewiesen", sagt Bührmann.

Besonders in ihrer Gründungsphase seien viele Unternehmen prekär, erklärt die Soziologin. "Ein Drittel der Gründungen sind außerdem nach drei Jahren schon wieder verschwunden." Eine bestimmte Branche, in der die sogenannte Prekarität besonders häufig auftritt, gibt es laut Bührmann zwar nicht – vom Fensterputzer über den Designer bis zum Informatiker ist alles dabei. Weniger betroffen seien aber freie Berufe wie Apotheker, Arzt oder Anwalt.

Ob Mann, Frau oder Migrant mache auch keinen Unterschied: "Es trifft alle Personengruppen", sagt Bührmann. Jeder gehe jedoch anders mit seiner Situation um. Die Soziologin hat mit vielen Betroffenen gesprochen, die alle anonym bleiben möchten. Manche von ihnen arbeiten objektiv betrachtet prekär, empfinden ihre Lage aber nicht so. Eine freie Theaterpädagogin etwa ist mit ihrem Verdienst zufrieden. Auch wenn die Frau einräumt: "Du weißt halt nie, was am Ende des Jahres rumkommt."

Dass viele Unternehmer am Rande des Existenzminimums leben, hat mehrere Gründe. Viele planten schlecht, stiegen mit zu wenig Geld ein und hätten unrealistische Umsatzerwartungen, erklärt Bührmann. Mangelnde unternehmerische Erfahrung und unpassende fachliche Voraussetzungen kämen hinzu. Selbständigkeit als Familienmodell führe auch häufig zu Problemen. "Das Erbe ist oft wichtiger als ökonomische Rationalität."

Unternehmer müssten besser und mehr beraten werden. "In der Regel wird nur in der Gründungsphase beraten. Es wäre aber wichtig, dass Unternehmer permanent die Möglichkeit haben, sich zu informieren - für wenig Geld", sagt Bührmann.

Auch Attila von Unruh, Gründer des Gesprächskreises "Anonyme Insolvenzler", sieht hier Probleme. Die Beratung müsse praxisnaher werden, da Kleinst-Unternehmer oft unerfahren seien. Berater, die selbst keine unternehmerische Erfahrung hätten, seien die falschen Ansprechpartner. Auch der Punkt "Scheitern" müsse eine größere Rolle spielen: "Es wird oft nicht auf Risiken hingewiesen", sagt von Unruh.