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Baustart für KKW Stendal vor 40 Jahren Ein Kernkraftwerk, das nie ans Netz ging

Mit einer Leistung von 4000 Megawatt sollte es das größte Kernkraftwerk der DDR werden, ging aber nie ans Netz - das KKW Stendal bei Arneburg. Heute vor 40 Jahren wurde die Baustelle nahe dem damals noch existierenden Dorf Niedergörne eröffnet.

Von Doreen Schulze 09.05.2014, 03:16

Arneburg l Nachdem 1966 das erste Kernkraftwerk (KKW) der DDR in Rheinsberg und 1974 der erste 400-Megawatt-Reaktor im Kernkraftwerk Greifswald ans Netz gingen, sollte zur Gewährleistung der Energieversorgung bei Magdeburg ein drittes KKW entstehen. Mit einer Gesamtleistung von rund 4000 Megawatt wäre es damit auch eines der größten Kernkraftwerke Deutschlands insgesamt geworden.

Als Standort wurde das direkt an der Elbe gelegene Dorf Niedergörne bei Stendal ausgewählt. Aus verschiedenen Gründen: Weil der Aufwand zur Umsiedlung aus dem Dorf mit nur 120 Einwohnern gering war, Kühlwasser direkt aus der Elbe entnommen werden konnte und im nahe gelegenen Stendal die Bauarbeiter und das Betriebspersonal untergebracht werden konnten.

Am 4. Oktober 1973 fasste der Ministerrat der DDR den Beschluss: "Errichtung des KKW III in Niedergörne." Weil Lieferschwierigkeiten für die 1000-MW-Blöcke sowjetischer Bauart bestanden, sollten in der ersten Aufbaustufe vier Türme mit zunächst je 440 Megwatt Leistung gebaut werden. Die Inbetriebnahme des ersten Blocks sollte laut Planung bereits 1981 erfolgen.

Am 9. Mai 1974 wurde die Baustelle offiziell im Speiseraum der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) eröffnet.

"Es gab zwei Einkaufsstellen und ein Werksrestaurant, das Tag und Nacht geöffnet war"

Es begann die Errichtung der Großbaustelle und der dazugehörigen Infrakstruktur - von der Trinkwasserleitung, der Stromversorgung bis hin zu Werkstätten und sozialen Einrichtungen. Zeitgleich wurde der Abbruch des Dorfes Niedergörne vorbereitet. Dorfkonsum, eine Schmiede, mehrere Ställe und eine Bushaltestelle mit Wartehäuschen mussten den Kraftwerksplänen weichen. Die Gräber des Friedhofs wurden umgebettet, die Kirche gesprengt. Die Einwohner konnten sich selbst aussuchen, wohin sie ziehen wollten. 1973 wurden Vorverträge zwischen dem Rat des Kreises Osterburg und den Einwohnern von Niedergörne abgeschlossen und sie damit auf den bevorstehenden Umzug vorbereitet. Bis Ende 1975 wurden kostenlose Umzüge, meist nach Osterburg, Arneburg oder Stendal, organisiert. Oft wurden extra Häuser gebaut. "Insgesamt hat sich der Lebensstandard verbessert. Es gab ein ordentliches Bad", berichtet Helmut Fleischhauer, der in Niedergörne aufwuchs. Das letzte Wohnhaus wurde am 9. Februar 1976 abgerissen. Es folgte die Kirche. "Das Gebäude hat sich erst einen halben Meter gehoben und ist dann in einer roten Staubwolke in sich zusammengebrochen", erinnert sich Fleischhauer. Heute lässt nur noch ein Baum auf einer Brachfläche erahnen, wo sich einst das Dorf Niedergörne befunden hatte.

1976 zogen die Aufbaustäbe, die bis dato in Borstel untergebracht waren, in Baracken an den KKW-Standort. Die Zuckerfabrik Goldbeck versorgte die Arbeiter zunächst mit Kübelessen. "Es war wie eine kleine Stadt. Es gab zwei Einkaufsstellen und ein Werksrestaurant, das Tag und Nacht geöffnet war", erzählt Fleischhauer. Mit Bussen fuhren zunächst zahlreiche Menschen Schicht für Schicht zur Baustelle und zurück nach Stendal. Später wurden Doppelstockzüge eingesetzt. Dazu entstand extra der Bahnhof am Stadtsee. Das Wohngebiet Stendal-Stadtsee selbst ist eine Folge der KKW-Baustelle. Es wurde eigens für die Unterkunft der Arbeiter errichtet. In diesem Zuge entstanden dort Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Kindergärten - eine komplette Infrastruktur.

"Von Protesten haben wir im Werk nichts gemerkt"

Gabriele Thürnagel, Sekretärin des Hauptingenieurs (Chef der Produktion), war auch Mitglied im Wohnungskomitee. In dieser Funktion vergab sie Wohnungen in Stadtsee an die Beschäftigten: "Ende der 1980er Jahre arbeiteten knapp 10000 Menschen auf der Baustelle." Auf auf ihr ging es international zu - Jugoslawen, Vietnamesen, Kubaner, Mosambikaner und Polen arbeiteten dort. Weil die Unterkünfte in Stendal-Stadtsee nicht mehr reichten, wurde Ende der 1980er Jahre auch das Wohngebiet Stendal-Süd gebaut.

Nach der Reaktorhavarie 1979 in Harrisburg (USA) änderte die DDR das Konzept: Statt der geplanten vier 440-Megawatt-Reaktoren sollten zwei 1000-Megawatt-Reaktoren gebaut werden. Verzögerungen bei der Projektierung, aber auch immer wieder Änderungen in der Planung, nicht zuletzt auch wegen des Reaktorunglücks in Tschernobyl im April 1986, sorgten dafür, dass der Termin der Inbetriebnahme immer wieder verschoben wurde. An offizielle Äußerungen zum Vorfall in Tschernobyl oder dessen Folgen auf der Baustelle kann sich Thürnagel nicht erinnern: "Es gab viele Versammlungen, die hohen Herren sind häufig nach Berlin gefahren. Ein großes Thema war es aber nicht. Man hat alles unter der Decke gehalten."

Der GAU von Tschernobyl war aber auch Auslöser von Protesten gegen den Bau des Atomkraftwerkes - auch wenn zu DDR-Zeiten nicht über sie berichtet wurde. Der Stendaler Friedenskreis um die (inzwischen verstorbene) Ärztin und Bürgerrechtlerin Erika Drees machte sich mit Plakaten und Veranstaltungen, immer im Blick der Staatssicherheit, für einen Baustopp stark.

1990 wurde aus dem VEB Kernkraftwerk Stendal die KKW Stendal GmbH und der Treuhandanstalt unterstellt. Zu diesem Zeitpunkt waren der Block A zu drei Viertel und der Block B zur Hälfte fertiggestellt. Vorgesehen war, das Kraftwerk mit westlicher Sicherheitstechnik auszustatten. Die Treuhand verfügte schließlich im Oktober 1990 die Einstellung der Bauarbeiten - es folgte die Abwicklung. Letztlich wäre das Kraftwerk in Staatsregie und auf Staatskosten weitergebaut worden. Die damalige Bundesregierung hatte es abgelehnt, Forderungen der westdeutschen Energieunternehmen nach einer Haftungsfreistellung für das Genehmigungsrisiko des KKW Stendal zu entsprechen. Somit wurde im März 1991 der Bau beider Blöcke endgültig eingestellt.

Wie viel Geld der nicht fertiggestellte Bau am Ende gekostet hat, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Die Zahlen schwanken zwischen 3,8 Milliarden und rund 5,8 Milliarden Mark. 1992 begann die Altmark Industrie Gmbh (AIG GmbH), die aus der KKW Stendal GmbH entstand, mit dem Abriss der Anlagen auf der knapp 700 Hektar große Industriefläche. Der Industrie- und Gewerbepark Altmark (IGPA) entstand. 2002 begann der Bau der ZellstoffStendal GmbH. Mittlerweile sind im IGPA mehr als 1000 Menschen beschäftigt.