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  7. Pfarrer Paulsen: "Auch Sterbenszeit ist Lebenszeit"

Informationsabend des Ambulanten Hospizdienstes Stendal im Johanniterhaus Rieseberg/Neun ehrenamtliche Helfer im Raum Gardelegen Pfarrer Paulsen: "Auch Sterbenszeit ist Lebenszeit"

Von Gesine Biermann 14.07.2011, 06:30

Es ist ein Thema, mit dem sich die Menschen nicht gern beschäftigen, und doch holt es irgendwann jeden ein: Mit dem Sterben, der letzten Zeit unseres Lebens, beschäftigte sich kürzlich auch der Gesprächskreis des Hospizvereines Stendal.

Gardelegen. Gundis Gebauer, Schwester im Stendaler Hospiz, Ulrich Paulsen, Pfarrer, Seelsorger und Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz Sachsen-Anhalt, und Dr. Urte Kreißl, Fachärztin für Innere Medizin in Gardelegen, reden über das Sterben. Das Thema ist nicht populär, sondern eher unbeliebt, wird gern verdrängt. Irgendwie wird er in unserem Kulturkreis gern totgeschwiegen, der Tod, der doch irgendwann jeden ereilt. Den einen trifft er wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Den anderen lässt er nur langsam gehen. Krankheiten sind oft der Grund dafür, dass Menschen Pflege benötigen, bevor sie sterben.

Indes: "Auch Sterbenszeit ist Lebenszeit", sagt Ulrich Paulsen, der zahlreiche Besucher zum Gesprächskreis im Gardeleger Johanniterhaus Rieseberg begrüßen konnte.

Paulsen ist Pfarrer, Krankenhausseelsorger im Stendaler Johanniter-Krankenhaus, Geschäftsführer des Stendaler Hospizes und auch der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz. Für ihn gehört nicht nur die Seelsorge, sondern auch die persönliche Sorge um Sterbende zum Leben. Auch und vielleicht besonders ein Mensch, der stirbt, müsse selber entscheiden können, wo und wie er seine letzten Wochen, Tage oder Stunden verbringt, fordert Paulsen. Und aus langjähriger Erfahrung weiß er: "Die meisten Menschen wollen zu Hause sein", sich möglichst lange "die eigene Selbstständigkeit bewahren" und sie möchten vor allen Dingen so "schmerzarm sterben wie möglich".

All dies erfordere allerdings eine gute palliative Pflege. Denn eine Sterbebegleitung zu Hause, das, was sich die meisten Menschen in dieser Situation wünschen würden, führe Angehörige oft an ihre Grenzen. Und doch, auch sie erleben dabei "ganz oft sehr dichte und kostbare Momente", versichert Paulsen.

Um solche Momente möglich zu machen, ist jedoch Unterstützung nötig. Unterstützung durch einen geschulten Arzt, durch einfühlsame Mitarbeiter von Pflegediensten oder aber durch ehrenamtliche Helfer des ambulanten Hozpizdienstes, der sich bereits vor Jahren in Stendal etabliert hat. 65 von ihnen gibt es bereits, so Gundis Gebauer, Krankenschwester im Stendaler Hospiz. 40 arbeiten aktiv im Stendaler Bereich. Aber auch in Gardelegen gibt es bereits neun ehrenamtliche Helfer.

Was sie tun, um totkranke Patienten und ihre Angehörigen zu unterstützen, zählt sie den Gästen im Johanniterhaus an diesem Abend auf: "Es geht vor allem darum, den Familien den Rücken zu stärken." Denn auch wer den Willen habe, ein Elternteil, den Partner oder Geschwister zu Hause zu versorgen, habe manchmal Probleme, dies ganz bis zum Ende durchzuhalten.

"Für jemanden, der am Bett sitzt, ist es schwer, Schmerzen oder Atemnot zu ertragen"

"Für jemanden, der am Bett sitzt, ist es oft schwerer als für den Sterbenden, Symptome wie Schmerzen oder Atemnot zu ertragen." Mancher würde sich fragen: Mache ich das alles überhaupt richtig? In eben solchen Fällen könnten die Mitarbeiter des Hozpizdienstes den Angehörigen dann meist Mut zusprechen. "So wie Ihr es macht, ist es gut!" Der Satz helfe da oft schon, den Pflegenden die Verzweiflung zu nehmen. "Unsere Mitarbeiter sind offen für alle Sorgen in der Familie." Und natürlich könnten sie mit vielen Ratschlägen oder Kenntnissen weiterhelfen. Schließlich sei das Sterben keine alltägliche Situation.

Zu Anfang, gab Gundis Gebauer zu, sei es vermutlich "merkwürdig, fremde Leute in der Wohnung zu haben". Doch wenn sich Angehörige auf das Hilfsangebot einließen, sei das meist eine gute Erfahrung. "Nur mal eine Stunde rausgehen, zum Einkaufen oder an die frische Luft." Das ist möglich, wenn ein Mitarbeiter für eine Weile am Bett des Sterbenden bleibt. Denn niemand müsse in irgendeiner Form ein schlechtes Gewissen haben, wenn er einmal eine Auszeit brauche, so Gundis Gebauer.

Ein wichtiger Hinweis, den auch Urte Kreißl den Besuchern des Gesprächskreises an diesem Abend mit auf den Weg gibt. In ihrer Arbeit als Hausärztin und als Internistin erlebt sie immer wieder, wie Angehörige reagieren. Viele Gefühle seien aber ganz natürlich. Auch Angst, sogar Wut, wie sie versichert. Da denkt die Ehefrau vielleicht: "Wie kann er mich nur allein lassen?" Auch das sei ganz normal, sagt Kreißl.

An jene Diagnose, die dem Patienten und seinen Angehörigen klarmacht: Ich werde sterben, "schließen sich fünf Phasen an, die jeder durchläuft". Der Verleugnung: "Das kann nicht sein, so schlecht fühle ich mich doch gar nicht, der Arzt hat sich geirrt", folge der Zorn auf die Krankheit oder auf die anderen, die gesund seien. Dann gäbe es eine Phase der Verhandlung: Sätze wie "Ich möchte nur die Hochzeit der Kinder noch erleben" höre sie da zum Beispiel oft.

Meist falle der Patient danach in die Phase der Depression, so Kreißl, der schlussendlich aber irgendwann die Akzeptanz folge. Alle Phasen erleben die Sterbenden und die Angehörigen gleichermaßen. Nicht immer sei jede Phase gleich stark, gleich lang. "Manchmal gehen sie auch ineinander über oder wiederholen sich." Doch jeder mache sie durch. Leider aber seien "die Patienten und ihre Angehörigen manchmal nicht auf einem Level". Da habe der Sterbende möglicherweise bereits akzeptiert, dass sein Leben endet, möchte vielleicht noch Dinge klären, sich versöhnen, möglicherweise sogar über seine Beerdigung sprechen. Der Partner aber sei noch gar nicht soweit. Befindet sich vielleicht noch in der Verleugnungsphase. Dann, so Kreißl, wird es für den Patienten schwer. Sie habe solch einen Fall einmal sehr drastisch erlebt. Die Ehefrau des Todkranken habe sogar "die Schmerzmittel versteckt", weil sie die schwere Krankheit des Mannes nicht akzeptieren wollte. Sie habe sich in dieser Zeit viel mit ihrem Patienten unterhalten, so Kreißl. "Er wollte nämlich über seinen Tod sprechen, und über seine Familie." Erst Jahre später, nach einem weiteren Todesfall in der Familie, habe die Frau begriffen, wie sehr sie ihren Mann damit verletzt hatte. Dadurch habe sie nun schwere psychische Probleme, "denn es holt uns ein", weiß die Ärztin. "Entweder wir nehmen das Sterben an, oder wir schleppen es wie einen Rucksack durch unser weiteres Leben." Deshalb versuche sie, Patienten und Angehörige gleichermaßen zu betreuen und zu begleiten, "eben einfach mit ins Boot zu kriegen", sagt Kreißl, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Weiterbildung über Palliativmedizin belegte. "Denn sonst leidet der Patient noch auf dem Sterbebett." Doch wenn es gelinge, "ist es einfach gut zu sehen, wenn Menschen zu Hause einschlafen dürfen. Und zwar auch für die Familie."

"Was macht es, wenn ich einen Tag weniger lebe, dafür aber nochmal die Vögel höre"

Vorausgesetzt natürlich, der Patient werde auch zu Hause ärztlich versorgt, sollte dies nötig sein. Die Einführung der gesetzlichen Regelungen zur Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SPAV) erleichtert dies seit einiger Zeit deutlich. Diese sollen, in Ergänzung und durch die Vernetzung vorhandener Versorgungs- und Betreuungsangebote von Hausärzten und Pflege- oder Hospizdiensten, totkranken Patienten ein Sterben in der für sie vertrauten Lebensumgebung möglich machen. Leider scheitere die Umsetzung oft noch "an viel zu viel Bürokratie", kritisiert Kreißl. Dennoch sollten Hausärzte zeitig eine dementsprechende Anfrage stellen, rät sie.

An jenem Abend geht sie schließlich auch noch einmal auf die Gabe von starken Schmerzmitteln ein, die oft nötig sein, wenn "medizinisch nicht mehr viel zu tun ist". Zuweilen hafte dem Begriff Morphium nämlich immer noch ein krimineller Geruch an. Viele seien skeptisch, wenn das Wort nur falle. Doch diese verschaffen dem Sterbenden einfach die nötige Schmerzfreiheit. Denn nicht die Länge des Lebens zähle hier noch, sondern nur die Qualität. "Was macht es, wenn ich einen Tag weniger lebe, dafür aber noch einmal ohne Schmerzen die Vögel hören, meinetwegen mit Legosteinen bauen oder auch lachen kann", sagt Kreißl. Denn, jawohl, auch Lachen sei erlaubt.

Vieles, was die drei Referenten während der Gesprächsrunde vortrugen, war den Gästen im Andachtsraum schließlich auch gut vertraut. Und doch, so mancher Hinweis brachte den aktiven und vielleicht künftigen Mitarbeitern im ambulanten Hospizdienst neue Anregungen für ihre schwere, aber auch dankbare Arbeit. Denn sie sind da, wo andere sich zurückziehen, sie haben keine Angst vor dem Umgang mit Menschen während ihrer letzten Stunden.

"Jeder stirbt für sich allein." Hans Fallada wählte diesen Satz einst als Buchtitel für einen seiner berühmtesten Romane. Doch solange es Menschen wie Gundis Gebauer, Ulrich Paulsen, Urte Kreißl, Schwestern, mutige Familienangehörige und all jene ehrenamtlichen Hozpizhelfer gibt, die ihre Zeit und ihre Kraft Todkranken und ihren Angehörigen zur Verfügung stellen, ihnen mit viel Zuspruch und Fachwissen den Rücken stärken, können Menschen aber vielleicht doch darauf vertrauen, dass dieser Satz irgendwann einmal für sie nicht gilt. Und sie dann nicht allein sind.