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Seit 1863 besteht unweit des Potsdamer Platzes die Genthiner Straße / Betont durch Möbelhäuser und Gewerbe Berlin: Auf 500 Metern gibt Genthin den Ton an

Rund 8000 Kilometer lang ist das Berliner Straßennetz. Das entspricht
der Strecke von Berlin bis nach Havanna. Gut einen halben Kilometer
davon gehört der Genthiner Straße im Ortsteil Tiergarten. Das Stückchen
Genthin in der Hauptstadt ist nur ein paar Gehminuten vom Potsdamer
Platz entfernt.

Von Manuela Langner 24.08.2013, 03:16

Berlin/Genthin l So bekannt wie der Kudamm, Unter den Linden oder die Kastanienallee ist die Genthiner Straße in Berlin zwar nicht, aber sie gehört unter den knapp 10 000 Straßennamen, die in der Hauptstadt vergeben sind, zu denen, von denen man schon einmal was gehört hat. Sei es die Werbung der dort anässigen Möbelhäuser ("Deutschlands größtes Möbelhaus" - 22 Etagen), sei es durch Christiane F. ("Wir Kinder vom Bahnhof Zoo") oder die Berichterstattung über Straßenprostitution in Berlin.

Die Genthiner Straße beginnt ganz idyllisch am Landwehrkanal. Hier geht das Lützow- in das Schöneberger Ufer über. Biegt man nicht in die Genthiner Straße ab, passiert man die ehemalige Galerie von Ferdinand Möller (Künstlergemeinschaft "Brücke") und ein früheres Wohnhaus von Schauspieler Hans Albers und steht schnell auf der Potsdamer Brücke. Von hier aus geht der Blick zwischen Neuer Nationalgalerie auf der linken und der Staatsbibliothek zu Berlin auf der rechten Seite direkt auf die Türme des Potsdamer Platzes.

Die Silhouette war vor knapp 100 Jahren eine andere, als Franz Hessel in seinen Roman "Heimliches Berlin" den Kiez an der Genthiner Straße beschrieb.

"Er machte in Gedanken noch einmal den Weg von gestern Abend, von der Potsdamer Brücke in die stille Nebenstraße, unter das lange Torgewölbe, das dunkle Stück Hof bis zu dem Hühnergarten und die Stiege hinauf ins Paterre des niedrigen Gartenhauses (...)."

Franz Hessel in "Heimliches Berlin"

Das erste Gebäude, das man in der Genthiner Straße wahrnimmt, gehört gar nicht zu ihr. Es ist die zwischen 1871 und 1874 nach Plänen des Schinkel-Schülers Friedrich August Stüler errichtete Zwölf Apostelkirche. Die Kirchgemeinde beschreibt sich als "typische Großstadtgemeinde im Kirchenkreis Berlin-Schöneberg mit gewachsenem Kiez, hoher Fluktuation, sozialen Brennpunkten und eher kirchenferner Tradition".

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die zerstörten Fenster der Apostelkirche mit Glasflaschen der Spirituosenfabrik Gilka ausgemauert. Dort, wo die Flaschen heute noch vorhanden sind, stehen sie inzwischen unter Denkmalschutz.

Am Schöneberger Ufer entstehen exklusive Eigentumswohnungen. Die Werbung für Südbalkone und Terrassen verfängt noch nicht. Baulärm durchdringt die Luft und vermischt sich mit dem Krach auf der Straße: Autos, Lkw und Lieferfahrzeuge rauschen über das Lützowufer.

Ein paar Schritte in die Genthiner Straße hinein wird es deutlich ruhiger. In der Tempo-30-Zone herrscht wenig Verkehr. Die hohen Straßenbäume auf der linken Seite verdecken nicht genug von den Betonklötzen, die den hinteren Teil der Genthiner Straße säumen. Insgesamt 52 Hausnummern sind vergeben. Wer eine Adresse in der Genthiner Straße hat, dem ist die Postleitzahl 10785 zugeteilt.

Das Medienhaus des FAB (Fernsehen aus Berlin), ein Seniorenzentrum und die schon erwähnten Möbelhäuser haben ihren Sitz in der Genthiner Straße. Kleine Geschäfte oder Cafés sucht man vergebens. Anders ausgedrückt: Die Genthiner Straße ist nichts für Fußgänger, sondern für Autofahrer. Die bezahlen 25 Cent für die erste angefangene Viertelstunde an Parkgebühren, danach kosten drei Minuten jeweils fünf Cent.

Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass illustre Namen wie David Bowie und Mick Jagger schon in der Genthiner Straße waren. Sie besuchten das Sound, damals die modernste Diskothek Europas. In einer umgebauten Tiefgarage in der Genthiner Straße wurden in den 1970er Jahren die ersten Laserprojektionen an die Wand geworfen. Eine Nebelmaschine steigerte den Nervenkitzel. Auch Christiane F. ging ins Sound. Obwohl ihr erster Besuch ihr überhaupt nicht gefiehl, gab es für das junge Mädchen bald kein Wochenende mehr ohne Sound. An ihrem 14. Geburtstag nahm sie dort zum ersten Mal Heroin.

In seinen "Sonntagsspaziergängen" berichtet Carl-Peter Steinmann, dass die Freie Schule Berlin ebenfalls ihre Wurzeln in der Genthiner Straße hat. Sie wurde 1928 gegründet. Die Trägerschaft übernahm der Waldorfschulverein. Anfangs herrschte Schülermangel. Nach fünf Jahren wurden wegen der starken Nachfrage größere Räumlichkeiten benötigt.

Die Lützowstraße durchschneidet die Genthiner Straße. Parallel dazu streckt sich der Magdeburger Platz. Die eingezäunte Grünanlage bietet einen Spielplatz mit Kletterburg für Kinder. Fußballspielen ist aber verboten. Einst gab es eine Markthalle am Magdeburger Platz, die der Schriftsteller Walter Benjamin in seinen Kindheitserinnerungen beschreibt. Verleger Peter Suhrkamp bedauerte, dass es das am schlechtesten zu verkaufende Buch seines Verlags sei, aber die Feststellung kam zu früh: Mit der Zeit wurde es zu einem der erfolgreichsten Bücher Walter Benjamins.

"Hatte man den Vorraum mit den schweren, in kräftigen Spiralen schwingenden Türen hinter sich gelassen, heftete sich der erste Blick auf Fliesen, die von Fischwasser oder Spülwasser schlüpfrig waren und auf denen man leicht auf Karotten ausgleiten konnte oder auf Lattichblättern."

Walter Benjamin über die Markthalle Magdeburger Platz in "Berliner Kindheit um neunzehnhundert"

Ein eigenes Kapital räumt er dort auch "Steglitzer Ecke Genthiner" ein.

Zum Tiergarten (offizielles Motto: "Hier wird regiert") gehört nicht nur der gleichnamige Park, sondern auch das Regierungsviertel, hier befinden sich so markante Berliner Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor, das Kanzleramt im Regierungsviertel oder das Elefantentor am Eingang zum Zoo. Dagegen wirkt die Genthiner Straße trist. Wenig los, wenig attraktiv. Hier regiert der Beton. Die Ausnahme muss man erst finden: den Begaswinkel.

Hinter der Toreinfahrt des Dänischen Bettenlagers findet man einen begrünten Innenhof, umgeben von Stadtvillen aus dem 19. Jahrhundert. Erbaut nach dem Vorbild Pariser Wohnhöfe. Namensgeber war der Maler Adalbert Begas, der so bekannte Künstler wie Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hoffmansthal zu Besuch hatte. Begas\' Bruder Reinhold ist der Schöpfer des Neptunbrunnens vor dem Roten Rathaus in Berlin-Mitte.

Die abgeschiedene Lage des U-förmigen Ensembles lockte Künstler und Gelehrte an. Ruhige exklusive Wohnungen für den gehobenen Anspruch sollten entstehen. Trotzdem war in Künstlerkreisen auch spöttisch vom "Genthiner Winkeldasein" die Rede.

"Gleich nach dem Haustor fand sich links im Flur die dunkle Tür zur Wohnung mit der Schelle. Wenn sie sich vor mir auftat, führte, steil und atemberaubend, eine Stiege aufwärts, wie ich es später nur noch in Bauernhäusern gefunden habe."

Walter Benjamin über das Haus von Tante Lehmann an der Steglitzer Ecke Genthiner in "Kindheitserinnerungen"

Heute gibt es im Begaswinkel unter anderem einen Verlag, Wohnungen und das 2003 aufwendig restaurierte Hotel Residenz Begaswinkel mit 19 Zimmern. Der Begaswinkel steht unter Denkmalschutz.

Auf die vielleicht interessanteste Frage lässt sich leider keine spektakuläre Antwort finden: Warum wurde die Genthiner Straße eigentlich nach der Stadt am Kanal benannt? Keiner der Historiker, die sich mit Berliner Straßennamen beschäftigt haben, hat eine tatsächliche Verbindung in die knapp 130 Kilometer entfernte Stadt festgestellt. Von "Namensvergaben, die mehr oder weniger Zufall waren", berichtet Hans-Jürgen Mende in "Straßennamen von A bis Z". Klaus Kotzur fügt in "Berlins Straßennamen" hinzu: "So ist für einige Straßen nach wie vor die Quellenlage noch dürftig beziehungsweise nicht eindeutig. Dies betrifft sowohl das Datum der Benennung als auch die Begründung der Namensgebung".

Die Daten für die Benennung der Genthiner Straße sind bekannt. 1863 stand die Kanalstadt für die Straße unweit des Landwehrkanals Pate. Zwischen 1935 und 1947 wurde die Genthiner Straße in Woyrschstraße umbenannt. Remus von Woyrsch lebte von 1847 bis 1920 und war preußischer Generalfeldmarschall.

Bei anderen Straßen, von denen man das vielleicht nicht vermuten würde, ist geklärt, woher sie ihren Namen haben.

Beim Kasinoweg war der 30 Meter hohe Kasinoturm auf dem Ludolfingerplatz der Namensgeber. Beim Gerlachsheimer Weg ist bekannt, dass der Ort in der Oberlausitz hinter dem Straßennamen steckt, weil viele Böhmen nach Berlin übergesiedelt waren.