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Vor 68 Jahren trafen die ersten KZ-Häftlinge in Genthin-Wald ein Verpflegung reichte gerade, um am Leben zu bleiben

14.07.2011, 04:28

Nach dem Zusammenbruch der Ostfront 1943 und den hohen Verlusten der deutschen Wehrmacht sowie dem schnellen Vorrücken der Roten Armee begann die faschistische Reichsregierung, die letzten verbliebenen Arbeitskräfte für den totalen Krieg zu mobilisieren. Schon kurz nach Ausbruch des Krieges wurden alle jungen Mädchen und Frauen im Alter von 17 bis 64 Jahren zu Dienstleistungen in der Rüstungsindustrie verpflichtet und richteten dazu so genannte Gemeinschafts- und Bereitschaftslager ein (1939/40).

Von Klaus Börner

Genthin. Am 10. Januar 1942 wurden schließlich auch die Konzentrationslager in die forcierte faschistische Kriegswirtschaft einbezogen. Auch die Genthiner Silva-Munitionswerke, die noch 1944 ihren Betrieb in nördlicher Richtung um etwa 30 Hektar Bodenfläche erweitert hatten, meldeten ihren Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften an. Bereits zur Jahreswende 1942/43 erfolgte dazu mit dem Lagerkommandanten des KZ-Ravensbrück, SS-Obersturmführer Fritz Suhren, und leitenden Vertretern der Silva-Metallwerke GmbH, dazu eine Aussprache mit Festlegungen zur Errichtung eines KZ-Nebenlagers in Nähe der Silvawerke in Genthin-Wald. Verhandelt wurde über den Einsatz von 600 KZ-Häftlingen, die in einem speziellen KZ-Nebenlager unterzubringen waren.

Da der Lagerbau kurzfristig erfolgen sollte, wurden Möglichkeiten durch das vorhandene Silva-Frauen-Gemeinschaftslager in Anspruch genommen, allerdings unter der Bedingung, das KZ-Lager gegenüber dem zivilen Gemeinschaftslager hermetisch abzuriegeln. Deshalb war der Bau eines 3,60 Meter langen, unüberwindbaren Grenzzaunes von 3,50 Metern Höhe, der auf der Innenseite mit Stacheldraht und einer stromgeladenen Oberleitung versehen war, notwendig.

Lagerbau begann im Frühjahr 1943

Ab Standort, der erst jetzt ermittelt werden konnte, wurde offensichtlich die Südostspitze am Grünen Weg des zivilen Gemeinschaftslagers von 100 mal 100 Metern Bodenfläche mit einem separaten Zu- und Ausgang von der B 107 festgelegt. Der Lagerbau begann offensichtlich im Frühjahr 1943 und war nach einer ersten Erwähnung am 18. Juni 1943 fertiggestellt. Am Bau des KZ-Lagers waren nachweislich Genthiner Betriebe und Unternehmer beteiligt.

Das KZ-Außenlager war nachweislich nach einer Geländeuntersuchung und Auswertung schriftlicher Quellen mit folgenden Gebäuden eingerichtet: vier Unterkunftsbaracken, von denen zwei (Block 2 und 3) ohne Sanitärbereiche waren, eine Krankenrevierbaracke, ein Wirtschaftsgebäude mit einem massiven Küchentrakt, der mit einem unterkellerten Häftlingsraum ausgestattet war. Ferner eine kleine Lagerbaracke am Westende sowie ein Häftlingsschutzbunker im Ein- und Ausgangsbereich des Lagers.

Außerdem war das Lager auf der West- und Ostseite mit je zwei Wachtürmen und am Ein- und Ausgang mit einer Kontrollbaracke ausgestattet.

Der Appellplatz befand sich nachweislich zwischen den beiden Mittelbaracken gegenüber dem Wirtschaftsgebäude und grenzte auf der Nordseite an das zivile Gemeinschaftslager, so dass die Folterschreie bei Strafappellen der Häftlinge nach bestätigten Aussagen noch weit hin in das zivile Arbeitslager zu hören waren.

Die ersten KZ-Häftlinge aus Ravensbrück trafen im Juli 1943 ein. Leider liegen dazu keine genauen Zahlenangaben vor. Mitte August 1943 kamen etwa 300 Frauen in das Genthiner Lager. Weitere Transporte erfolgten unter anderem im Oktober 1944 mit 570 Frauen. Die durchschnittliche Belegungsstärke, die im April 1945 mit 716 Häftlingen ihre höchste Zahl erreicht hatte, betrug zwischen 500 und 700 Häftlingen. Die meisten Häftlinge waren aus Polen, Rußland, aber auch Frauen aus Deutschland, der Ukraine, der Tschechoslowakei, Frankreich und Italien befanden sich unter ihnen. Jüdische Frauen sind im Genthiner Lager nicht nachgewiesen. Die meisten von ihnen waren im Alter von 16 bis 40 Jahren, die damals aus verschiedenen Gründen nach Deutschland verschleppt wurden. Mit den Häftlingen kam auch das zum Lager gehörende Verwaltungspersonal sowie die Aufsichts- und Sicherheitskräfte aus Ravensbrück nach Genthin. Das waren:

1. De Lagerkommandanten, SS-Scharführer Steffens (1943-1945), und SS-Unterscharführer, Otto Wahl (1945 bis Kriegsende), der sich am 5./6. Mai 1945 mit anderen Aufsichtskräften noch rechtzeitig vor der Befreiung des Lagers in den Westen abgesetzt hatte.

Zehn SS-Wachmänner für äußere Sicherheit

2. SS-Oberaufseherin Elfriede Tribus (1943 bis Januar 1944) und danach die Österreicherin Hermine Braunsteiner, die für die innere Ordnung im Lager und die verhängten Strafen gegenüber den KZ-Häftlingen verantwortlich war und dafür 1949 vom Landgericht in Wien zu drei Jahren schweren Kerker mit Vermögensverfall verurteilt wurde.

3. Etwa zehn SS-Wachmänner, die für die äußere Sicherheit (Besetzung der Wachtürme) und den Begleitschutz der KZ-Häftlinge zur Arbeit eingesetzt waren.

4. Rund 18 bis 23 junge Aufseherinnen, die ihre Ausbildung im Umgang mit den Häftlingen im Stammlager Ravensbrück erhalten hatten.

Seit September 1944 unterstand das KZ-Außenlager dem KZ-Sachsenhausen und wurde von dort aus zentral geleitet.

Untergebracht waren die Häftlinge in den Holzbaracken, die mit doppelstöckigen Holzpritschen ausgestattet waren. Auf den Pritschen befanden sich ein mit Holzspäne gefüllter Strohsack und zwei Decken, die als Laken und Zudecke zu benutzen waren. Nachts wurden die Häftlinge von Wanzen und anderen Insekten geplagt. "Ernsthafte Probleme gab es in den Wintermonaten", so eine Zeugin. Obgleich die Barackenräume mit eisernen Öfen ausgestattet waren, konnten diese durch ausbleibende Heizmaterialien von den Häftlingen nicht beheizt werden.

Als Kleidung trugen die Häftlinge blau-weiß gestreifte Nesselkleider, die auf den Ärmeln mit der Häftlings-Nummer und einem politischen Zeichen versehen waren. "Im Winter", so eine Zeugin, "wurden kurze, abgetragene Mäntel zugeteilt, welche den weiblichen Gefangenen bei ihrer Ankunft in Ravensbrück abgenommen wurden. Auf dem Rücken waren die Mäntel mit einem mit Ölfarbe aufgetragenen Kreuz (weiß) gekennzeichnet. Das Schuhwerk bestand im Sommer aus Lederpantoffeln, im Winter aus Leinenschuhe mit Holzsohle.

Zwei Schichten zu je zwölf Stunden

Zu ihren Lebensbedingungen im Lager und Arbeitsverhältnis im Werk berichten ehemalige KZ-Häftlinge bei Zeugenvernehmungen 1969 bis 1971 folgendes: "Wir Häftlinge arbeiteten in zwei Schichten (Tag- und Nachtschicht) zu je zwölf Stunden. Frauen der Tagesschicht mussten zwischen 4 und 4.30 Uhr aufstehen. Dann erfolgte der Zählappell und danach der Abmarsch zur Fabrik. Um 6 Uhr begann die Arbeit. Frühstück mit einem Stück Brot und einer Tasse Kaffee (Kaffeeersatz) gab es um 9 Uhr in einer viertelstündigen Pause. Zu Mittag 12.30 Uhr oder auch später (16 Uhr) gab es in der Regel Eintopf mit Steckrüben und Kartoffeln und manchmal auch ein winziges Stück Fleisch. Nach 18 Uhr kehrten die Häftlinge in das Lager zurück und erhielten nach dem Lagerappell, der oft Stunden dauerte, ein geringes Abendessen, das wiederum aus Suppe oder aus einem Stück Brot mit Wurst und Margarine bestand."

"Die Verpflegung reichte gerade, um den Menschen am Leben zu halten", berichtete eine ehemalige Häftlingsfrau. Hauptarbeitsort der KZ-Häftlinge war der berüchtigte Werkteil PLI (Patronen, Leuchtspur für Infanteriemunition), wo zuvor hauptsächlich Fremdarbeiter beschäftigt waren. Die Werkhalle befand sich in der Südwestspitze des Werkes und war in einem 20-minütigen Fußmarsch herum um das zivile Arbeitslager ab dem KZ-Lager zu erreichen. Im PLI wurden die Geschosse mit gesiebtem Pulver gefüllt, die Zündhütchen gesteckt und die Geschosse maschinell einsatzbereit gemacht, verpackt und verladen.

Leiter der PLI-Abteilung war der aus Magdeburg stammende Sprengmeister Kurt Ast, der wegen seiner Strenge und strafbaren Handlungen auch unter den zivilen dienstpflichtigen Werkarbeiterinnen bekannt und gefürchtet war. Bei geringstem Vergehen bei der Arbeit, oftmals ohne Grund, griff er mit den SS-Aufseherinnen ein und verhängte harte Strafen: Prügelstrafen mit verschiedenen Gegenständen, Fußtritte, Essenentzug, Bunkerarrest, Kopfscheren oder stundenlanges Strafestehen bei Appellen waren an der Tagesordnung. Selbst der auf bestimmte Zeiten festgelegte Gang zur Toilette wurde überwacht und bei Nichteinhaltung bestraft. Kranke und nicht mehr leistungsfähige Häftlinge wurden nach Aussagen der SS-Oberaufseherin Hermine Braunsteiner 1949 vor dem Landgericht in Wien in das KZ-Stammlager zurückgeschickt und gegen andere Häftlinge ausgetauscht. Auch die Bestrafung von Häftlingen, die sie selbst mit durchgeführt hatte, hat die damals 24-jährige SS-Aufseherin bei ihrer Befragung zugegeben.

Als es im Frühjahr 1944 im PLI durch eine Pulverentzündung zu einer Explosion kam, bei der ein Häftling ohne gewährte Hilfe durch starke Verbrennungen arbeitsunfähig wurde, griffen die SS-Aufseherinnen und der Betriebsmeister Kurt Ast nicht ein und lehnten jegliche Hilfe ab, was bei den anderen KZ-Häftlingen Empörung und Hass gegen Kurt Ast auslöste, der von ihnen nach ihrer Befreiung am 7. Mai 1945 getötet wurde.

Diese Tat zeigt, wie groß der Hass der Häftlinge auf ihre Peiniger gewesen sein muss und unter welchen unmenschlichen Bedingungen sie in der Silva-Munitionsfabrik arbeiten mussten. Nachweislich gab es im Genthiner Außenlager weiterhin zwei Todesfälle, und zwar die am 1. Januar 1944 verstorbene Ukrainerin Anna Iwaikina mit der Häftlings-Nr. 13767 und die am 5. Mai 1944 verstorbene Russin Antonina Segejewa mit der Häftlings-Nr. 19623. Die Leichen wurden im Krematorium Brandenburg eingeäschert. Zwischen den beiden Arbeitslagern, den KZ-Häftlingen und dienstpflichtigen Deutschen sowie ausländischen Frauen gab es gravierende Unterschiede.