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Aus Kriegsgefangenschaft geflohener Mann findet Weihnachten 1945 in Genthin Familie wieder Der traurige Fremde aus der Kirche

24.12.2011, 04:23

An Heiligabend 1945 können sich viele ältere Menschen noch erinnern - es war das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. Rosemarie Peters erlebte eine ganz besondere Geschichte, die sie bis heute nicht vergessen und geprägt hat. Eine wahre Begebenheit.

Genthin l Als sich Rosemarie Peters an jenem Nachmittag am Heiligen Abend mit ihren Eltern auf den Weg in die Kirche machte, ahnte sie nicht, dass sie das Weihnachtsfest mit einem Fremden verbringen würde. Es war das erste Weihnachten nach dem Krieg im Jahr 1945. Das erste Weihnachten, an dem die damals Sechzehnjährige keine Angst mehr haben musste, dass Bomben und Gewehrschüsse das elterliche Haus zerstören würden. Als sie mit ihrem Vater Karl und ihrer Mutter Anna die St. Trinitatis-Kirche betrat, stand da ein Mann, in Lumpen gekleidet, mit traurigem Blick. Er stand am Rand, nahe der Holztreppe, die auf die Empore führte. Rosemarie Peters ahnte in diesem Moment nicht, dass sie dieses Bild nie wieder vergessen würde.

"Mein Haus habe ich verloren und ich weiß nicht, wo meine Familie ist."

Heute ist Rosemarie Peters 82 Jahre alt, und doch hat sie die Geschichte von Heiligabend 1945 bisher kaum einem Menschen erzählt. Sie hat sie wie einen Schatz aufbewahrt. Vielleicht, weil sie nicht gern im Mittelpunkt steht. Denn würde sie diese Geschichte erzählen, würden ihr alle wie gebannt an den Lippen hängen - und das wäre ihr unangenehm. Vielleicht aber auch, weil sie diese Geschichte an den Krieg erinnert und eigene Erlebnisse in ihrem Kopf hervorruft, die mit Angst und Schmerz verbunden sind. Doch heute, 66 Jahre danach, ist es so weit: Rosemarie Peters erzählt ihre Geschichte.

Als sie mit ihrer Familie an jenem 24. Dezember 1945 auf der Kirchbank in St. Trinitatis saß, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Ihr Vater war sehr unruhig. Immer wieder wendete er den Blick in Richtung des Fremden, der den ganzen Gottesdienst lang an der Holztreppe stand. Er trug einen gelb-grünen, dreckigen Mantel, wie ihn die Soldaten im Krieg besaßen. Darunter war die Hose zerfetzt, die Schuhe hatten Löcher - es war ein sehr kalter Dezember und der Fremde sah aus wie ein Bettler. Auch einige andere Männer, ähnlich schäbig gekleidet wie er, standen mit ihm unter der Empore. Keiner aus Genthin kannte sie näher.

"Meinen Vater hat dieser Anblick nicht losgelassen. Den ganzen Gottesdienst hat er sich zu dem Fremden umgedreht", erzählt Rosemarie Peters heute mit ruhiger Stimme. Ihre Hände dagegen bewegen sich unruhig auf ihren Beinen, aber das bekommt sie gar nicht richtig mit. Denn vor ihrem inneren Auge spielt sich die Szene noch einmal ab. "Kurz bevor der Gottesdienst zu Ende war, diskutierten meine Eltern leise miteinander. Ich konnte ihre Worte nicht verstehen, habe aber gespürt, dass es um etwas sehr Wichtiges ging", erinnert sich die 82-Jährige.

Als die Glocken anfingen zu läuten, nahm Mutter Anna ihre Tochter Rosemarie an die Hand und verließ mit ihr zügig die Kirche. "Komm, wir gehen jetzt. Dein Vater hat noch etwas zu tun", sagte sie zu der Sechzehnjährigen und sie machten sich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen begaben sie sich in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten.

Nach einer Weile hörte Rosemarie draußen vor dem Haus plötzlich eine Stimme. Zuerst ganz leise, dann deutlicher: Ihr Vater rief nach ihr, sie sollte die Tür öffnen. Rosemarie ging die Treppe herunter und machte die Haustür auf. Ihr Vater Karl stand draußen in der Kälte. Er war nicht allein: Der Fremde aus der Kirche stand hinter ihm.

"Er kam aus Ostpreußen, seine Aussprache war unverwechselbar."

"Im ersten Moment hatte ich Angst: Das zerzauste Haar, die Lumpensachen - er sah fürchterlich aus", erinnert sich Rosemarie Peters noch ganz genau. "Mein Vater hat mir dann alles erklärt: Der Fremde hieß Werner Hopp, er war Soldat im Krieg und aus der russischen Gefangenschaft geflohen. Er hatte keine Bleibe über Weihnachten." Mit Werner Hopp, einem mittdreißigjährigem Soldaten, der in seinem Aufzug wie ein Fünfzigjähriger schien, sollte sie nach der Vorstellung ihres Vaters das Weihnachtsfest verbringen. Das erste Weihnachten nach dem Krieg hatte sie sich anders vorgestellt. "Mein Vater ist mit Werner Hopp in den Keller gegangen, hat ihn in den alten Kessel gesteckt und ausgiebig baden lassen. Seine Anziehsachen hat er direkt im Ofen verbrannt. Sie waren voller Ungeziefer", sagt Rosemarie Peters.

Zu der Zeit war die Sechzehnjährige oben bei ihrer Mutter, die gemeinsam mit den eingetroffenen Brüdern des Vaters den Tisch deckte. Als alle schon an der Tafel saßen, kam ihr Vater Karl mit Werner Hopp dazu - in Kleidungsstücken des Vaters. Sie teilten das Abendessen auf, brachen das Brot miteinander. Der Fremde begann zaghaft zu erzählen. "Vor ein paar Wochen bin ich aus der Kriegsgefangenschaft geflohen, nun bin ich in Genthin gelandet. Mein Haus habe ich verloren und ich weiß nicht, wo meine Familie ist. Ich habe gehört, dass sie sich vielleicht in Genthin aufhalten könnte. Danke, dass ich heute Abend hier sein darf."

Rosemarie Peters hat feuchte Augen, sie erinnert sich noch genau an die Worte von Werner Hopp. "Sein schreckliches Schicksal in Verbindung mit der Dankbarkeit, Weihnachten bei uns verbringen zu dürfen, bewegt mich noch heute. Er war ja völlig mittellos, er hatte nichts", beschreibt sie die Situation, als wäre es gestern gewesen. "Er kam aus Ostpreußen, seine Aussprache war unverwechselbar. Doch das Gebiet gehörte ja nach dem Krieg den Russen." Die Angst vor der Grausamkeit der russischen Soldaten einte Werner Hopp und die kleine Rosemarie an jenem Abend. Wie Werner Hopp hat auch sie schreckliche Erfahrungen in der Kriegszeit gemacht: Um sie vor den Vergewaltigungen der Russen zu schützen, hat ihr Vater Karl die damals Sechzehnjährige auf dem Dachboden versteckt.

Das eigentliche Wunder an Weihnachten 1945 passierte jedoch gar nicht an Heiligabend mit der Aufnahme von Werner Hopp - es geschah einen Tag später, am 25. Dezember. Karl Peters begab sich auf die Suche nach Käthe Hopp, der Frau von Werner und seinen beiden Kindern. Den ganzen Tag verbrachte er damit, Menschen zu fragen, ob sie eine Frau Hopp gesehen hätten: Erst in der Nachbarschaft, dann fremde Menschen in der Stadt. Sogar bei den Behörden, in denen in dieser Ausnahmesituation nach dem Krieg auch am Feiertag Beamte anzutreffen waren, war er. Und tatsächlich: Bei der Stadt hatte sich Käthe Hopp als Flüchtling gemeldet. Durch verschiedene Hinweise fand er sie am Abend mit dem zwölfjährigen Sohn sowie der sechsjährigen Tochter. Er nahm sie mit zu sich nach Hause.

Rosemarie Peters versucht, ihre Tränen zu unterdrücken. Es fällt ihr schwer, in Worte zu fassen, was dann geschah. "Sie lagen sich in den Armen und waren einfach nur glücklich, dass alle wohlauf waren", erzählt sie mit leicht gebrochener Stimme. Die 82-Jährige ringt um Fassung. "Meine Eltern haben mit den Hopps, obwohl sie aus Genthin wegzogen, eine enge Freundschaft geführt. So lange, bis Werner Hopp fünf, sechs Jahre später leider schon sehr früh verstorben ist", sagt sie.

"Meine Eltern waren gute Menschen. Sie haben immer geholfen."

Doch es ist nicht nur das Wunder des Wiedersehens, das sie bewegt. Es ist vor allem auch die Tatsache, mit welcher Nächstenliebe und Großzügigkeit ihr Vater und ihre Mutter gehandelt haben. "Meine Eltern waren herzensgute Menschen. Sie haben immer geholfen, wenn sie helfen konnten", sagt Rosemarie Peters leise, aber mit Stolz. Ihr Vater, Dachdecker von Beruf, hat den Familien in der Nachbarschaft nach dem Krieg teilweise ohne Bezahlung die Dächer instand gesetzt. "Er hat immer gesagt: ¿Geben Sie mir nichts. Sie haben ja noch weniger als wir\'", erzählt Rosemarie Peters.

Jahrzehntelang sind Karl und Anna Peters nun schon tot. Doch ihre Tochter Rosemarie pflegt ihr Grab mit ihren 82 Jahren noch immer sehr liebevoll. Sie verehrt und bewundert sie - so wie es Werner Hopp auch mit seiner Dankbarkeit getan hat. Jedes Jahr an Heiligabend denkt Rosemarie Peters an ihn. "Ich werde nie vergessen, wie er in St. Trinitatis stand: In Lumpen gekleidet, mit seinem traurigem Blick", sagt sie bewegt, wirkt dabei aber ganz ruhig und ausgeglichen. So, als hätte sie ihre Geschichte schon oft er- zählt.

Alle Namen wurden auf Wunsch von Rosemarie Peters von der Redaktion geändert.