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Stapelburger Familie Grahmann erinnert sich an das Leben im "Schutzstreifen" und an die Grenzöffnung im Eckertal In Vienenburg als NVA-Soldat in Zivil die 100 Mark Begrüßungsgeld abgeholt

Von Andreas Fischer 10.08.2011, 04:27

Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, begann die DDR mit dem Berliner Mauerbau. Später folgte ein Eiserner Vorhang quer durch Deutschland. Auch der heutige Harzkreis war davon betroffen. Die Volksstimme besuchte ehemalige Grenzorte und traf dort Menschen, die jahrzehntelang unmittelbar am Zaun lebten, wie Antje und Ralf Grahmann aus Stapelburg.

Stapelburg. Antje Grahmann arbeitet als Gärtnerin auf dem kommunalen Friedhof in Bad Harzburg, bereits seit kurz nach der politischen Wende. Der Ehemann der 43-Jährigen, Ralf Grahmann, ist im Nationalpark Harz beschäftigt.

Für beide ist inzwischen persönlich die wirtschaftliche Einheit Deutschlands erreicht. War die in Stapelburg unmittelbar an dem einst beide deutschen Staaten trennenden Flüsschen Ecker wohnende Gärtnerin bereits von Anfang an nach niedersächsischem Tarif bezahlt worden, erhält ihr 45-jähriger Mann als Forstwirt seit Kurzem auch den gleichen Lohn für seine Arbeit wie seine niedersächsischen Kollegen.

"Sprachliche Unterschiede werden wohl bleiben", glaubt Antje Grahmann. Besucher auf dem Friedhof der Ilsenburger Partnerstadt fragen sie deshalb immer wieder: "Sie sind wohl nicht aus Harzburg?" Weniger an Worten wie Broiler statt Brathähnchen würden die Unterschiede deutlich, vielmehr bei unterschiedlichen Begriffen wie zur Uhrzeitangabe: Dreiviertel Acht. Damit wissen jenseits der Ecker die Niedersachsen oft nichts anzufangen, dort sagt man Viertel vor Acht.

Über solche feinen Unterschiede lächeln die Grahmanns heute angesichts des strengen Regimes und der zahlreichen Probleme, die einst mit dem Wohnen so dicht an der Grenze zweier hochgerüsteter Militärblöcke verbunden waren. Das Elternhaus von Ralf Grahmann befand sich im Lerchenfeld von Stapelburg, im sogenannten 500-Meter-Schutz- streifen, genauso wie auch sein heutiges Domizil. Das Grenzdorf war zu DDR-Zeiten zweigeteilt. Die Bewohner dieser unmittelbar an der einstigen Staatsgrenze gelegenen Häuser benötigten eine besondere Genehmigung und wurden an einem Grenzzaun vor ihrem Wohnviertel beim Betreten des "Schutzstreifens" immer kontrolliert. Am Eingang der "Fünf-Kilometer-Sperrzone", die an Stapelburgs Ortsausgängen von Ilsenburg und Veckenstedt begann, waren die Kontrollstellen hingegen nicht ständig besetzt.

Für die Grahmanns war es somit noch schwieriger als für jene im "normalen Sperrgebiet", Besuch zu empfangen - spontane Begegnungen mit Freunden waren ausgeschlossen. Das Ehepaar schuf sich dennoch sein "eigenes Nest".

Spontaner Besuch im "Schutzstreifen" ausgeschlossen

Das Grundstück, das einem Stapelburger gehörte, der die DDR bei Nacht und Nebel verlassen hatte, bewirtschaftete die Wohnungsverwaltung im Dorf. Mit der politischen Wende kam die Veränderung. Die Alteigentümer meldeten sich gleich nach der Grenzöffnung und boten den Verkauf an. 120 000 D-Mark verlangten sie für das unsanierte Gebäude samt Grundstück. Bei 100 000 D-Mark wurden sie handelseinig, doch Ralf Grahmann meint heute, zuviel bezahlt zu haben. Zum Kredit für den Hauskauf kam dieselbe Kreditsumme für dringend erforderliche Reparaturen. Gewiss wäre es für ihn billiger gewesen, neu zu bauen. Doch er wollte nicht jenes Haus verlassen, indem er aufgewachsen war.

Die Grenzöffnung erlebten Antje und Ralf Grahmann 1989 nicht gemeinsam. Er absolvierte seinen Grundwehrdienst bei der Armee, sie verbrachte viel Zeit bei ihren Eltern in Osterwieck.

Die Umbrüche in der Gesellschaft waren für Ralf Grahmann besonders gravierend, viele Kleinigkeiten zählt er dazu. War es ihm als Soldat beispielsweise zunächst strikt verboten, Westfernsehen zu sehen, änderte sich das plötzlich in der Wendezeit. So sah er im fernen Strausberg im ZDF, wie am 11. November in Eckertal plötzlich die Mauerelemente entfernt wurden. Dann, bevor das Technische Hilfswerk eine Brücke baute, sah er, wie die Linienbusse zunächst nur bis zur Grenze fuhren, die Passagiere umsteigen mussten, um vom Eckertal nach Bad Harzburg zu gelangen. Für ihn als NVA-Angehöriger war es selbst in den ersten Wochen nach der Grenzöffnung nicht erlaubt, in den Westen zu fahren. Dann kam der Befehl, auch Soldaten im Urlaub können bei der Volkspolizei ihren Ausweis abholen und mit Visa in die BRD reisen. Deshalb holte er sich erst Wochen nach der Grenzöffnung als NVA-Soldat in Zivil sein Begrüßungsgeld in Vienenburg. "Von den 100 Mark habe ich mir auch ein Paar Wanderschuhe zugelegt", erinnert er sich.

So unmittelbar an der wieder passierbaren innerdeutschen Grenze zu wohnen, brachte für die Grahmanns mit sich, dass sie monatelang an der einstigen Ortsdurchgangsstraße mit schier endlosen Blechkolonnen und deren Auspuffgasen leben mussten. Für sie, die damals schon in Harzburg arbeitete, dauerte die 10-Kilometer-Fahrt zur und von der Arbeit lange und war wegen häufiger Staus von der Dauer her überhaupt nicht kalkulierbar. Der Bau der Stapelburger Umgehungsstraße - mithin die allererste in Sachsen-Anhalt, der zügig nach der Grenzöffnung erfolgte, brachte große Erleichterung. Und dank der heutigen vierspurigen Bundesstraße 6, die an dem früheren Grenzdorf vorbeiführt, ist bei Grahmanns im letzten Haus vor der Ecker wieder Ruhe eingekehrt.

Monatelang schier endlose Blechkolonnen

Immer die einstige Grenze im Blick, sind viele Erinnerungen an die aufregenden Monate nach der Maueröffnung geblieben. So sah das Ehepaar ihr Haus in vielen Zeitungen. Aus ihrem Wohnzimmer berichtete mit dem Blick auf die Menschenmassen im Eckertal sogar das Fernsehen. Antje Grahmann: "Das sind unauslöschbare Erinnerungen."

Inzwischen ist ihre Tochter, die sie 1989 für die Fernsehreporter auf dem Arm hielt, erwachsen, studiert Agrarwissenschaften. Auch an ihr spüren beide Stapelburger, dass bereits 22 Jahre seit dem denkwürdigen Tag der Grenzöffnung am 11. November 1989 im Eckertal vergangen sind.

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