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Wieglitzer Kirche verwandelt sich beim "Grenzgängerfestival" in ein rappelvolles Wartezimmer Kunst auf Rezept strapaziert das Zwerchfell

Von Anett Roisch 10.09.2013, 03:17

Die kleine Kirche in Wieglitz ist zum zehnten Mal Schauplatz einer der zahlreichen Veranstaltungen des Kleinkunstfestivals "Grenzgänger". Mit ihrem Programm "Der Nächste bitte" haben Kabarettisten das Gotteshaus in ein rappelvolles Wartezimmer verwandelt und auf Rezept das Zwerchfell des Publikums behandelt.

Wieglitz l Die Kirche in Wieglitz platzt aus allen Nähten. Es hat sich herumgesprochen, dass es der Kirchengemeinde durch den Verein "Grenzgänger" immer wieder gelingt, professionelle Künstler, die sonst meist nur auf großen Bühnen zu bewundern sind, zu moderaten Preisen nach Wieglitz zu holen. Das Festival wird zum 17. Mal veranstaltet, um unter anderem Gotteshäuser mit der gebotenen Kultur mehr ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Zum ersten Mal sind Bernhard Biller und Jürgen Fliegel von der Theaterkompanie Leipzig mit ihrem Programm "Der Nächste bitte" in das Gotteshaus gekommen. Dass "Götter in Weiß" auch intelligente Schelme sein können, beweisen die beiden Schauspieler mit einem kabarettistischen Streifzug durch die Geschichte der Medizin. Die Akteure vereinen dabei geschickt Witz und Wissenschaft.

Die Behandlung vom Zwerchfell gelingt mit bewährten Mittelchen. So zeigt Fliegel in der Rolle von Rolf Herricht seinem Freund Hans-Joachim Preil, der von Biller gespielt wird, wie mit Mückentötolin Insekten vernichtet werden. Auf kleiner Bühne werden Kostüme gewechselt, Stimmen gehoben und gesenkt. Mit Texten von William Shakespeare und Martin Luther entwickeln Biller und Fliegel ein poetisch-humorvolles Schauspiel, das Lacher hervorruft, aber auch oft dem Publikum ein nachdenkliches Schmunzeln entlockt.

Zur Stärkung der Lebensgeister gibt es in der Pause Wein. "Es sind inzwischen Freundschaften zwischen den Künstlern und uns Wieglitzern entstanden", erklärt Angelika Huchel. Sie hatte vor zehn Jahren die Kontakte zu den "Grenzgängern" für ihre Kirchgemeinde geknüpft und schenkt nun den Gästen in der Pause ganz nach Wunsch Rot- oder Weißwein ein. Um alle Besucher bewirten zu können, hatten die Wieglitzer ein großes Partyzelt gleich auf der Wiese neben der Kirche aufgebaut. Die Besucher kommen inzwischen nicht nur aus der näheren Umgebung, sondern auch von weit her. 205 Kilometer weit gereist ist Familie Brettschneider, die in Schilda wohnt. "Wir besuchen meine Schwester Melitta in Bartensleben. Sie hat uns mit nach Wieglitz genommen. Wir sind begeistert", gestehen Brettschneiders. "Wir waren schon öfter beim Grenzgängerfestival und kommen immer wieder gern in die kleine Kirche", sagt Melitta Bremer aus Bartensleben.

"Wir kommen aus Leipzig. Dort ist das Publikum verwöhnter, kritischer und satter", erklärt Fliegel und beschreibt die Zuschauer in Wieglitz als erfrischend, offen und hungrig auf Kultur.

"Ich bin der Doktor Eisenbart", singen die Kabarettisten als Zugabe. Als Fliegel die Zuschauer auf der Empore als Hinterbänkler bezeichnet, rächt sich ein Gast von hinten und dreht den Knopf für die Leuchtkraft der Scheinwerfer nach unten. Daraufhin nennt Fliegel die Zuschauer dann reumütig die "Erhöhten". Und das Licht geht wieder an. Die Besucher sind sich einig, auch im nächsten Jahr sollen die Lichter wieder für die Künstler des Grenzgängerfestivals angehen.

In Höchstform laufen die Darsteller auf, als sie Szenen aus Jean Baptiste Molières Werk "Der eingebildete Kranke" aufführen. Am Ende loben die Kabarettisten die Arznei der heutigen Zeit, zu der gern und schnell gegriffen wird, wenn es zwickt und zwackt. "Denn beim winzigsten Befund werfe ich mir kunterbunt meine Pillen in den Schlund", heißt es.

Die Aufführung erzielt ganz ohne Medikamente, dafür mit Köpfchen und Wortwitz eine aufputschende Wirkung. Die Diagnose des Abends verkündet Astrid Leischwitz vom Gemeindekirchenrat: "Der Auftritt war kein Ärztepfusch, denn Lachen ist gesund." Arznei - Geschenke für die Seele - überreicht Angelika Huchel an die Schauspieler.