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Auf leisen Sohlen: Der Letzte seiner Zunft schließt die Werkstatt für immer Schustermeister Jung bleibt nicht länger bei seinen Leisten

Von Hartmut Beyer 21.12.2013, 01:07

"Ich bin traurig und werde Sie vermissen", sagt ein Kunde und hat dabei Tränen in den Augen. Er wollte eigentlich nur mit einer kurzen Naht einen Gurt repariert haben. Das macht - genauer gesagt: machte - Günter Jung, seit über 60 Jahren Schuhmacher in Eilsleben, zwischen zwei Atemzügen.

Eilsleben l Zwei Tage später hat Günter Jung seine Werkstatt in der Rudolf-Breitscheid-Straße für immer zugeschlossen. Die traditionellen Dienstleistungen, für die der Meister weit und breit bekannt war, wird es hier nun nicht mehr geben. Und schon gar nicht das vertraute Gespräch, den von vielen geschätzten lockeren Plausch zwischen dem 78-Jährigen und seinen Kunden. Als alteingesessener Eilsleber, seit einigen Jahren in Seehausen ansässig, kennt Jung sich bestens aus mit Land und Leuten.

Günter Jung ist Teil einer Eilsleber Schuhmacher-Dynastie, die mit seinem Großvater Karl Jung in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und heute in der fünften Generation besteht. Sohn und Enkel seines Bruders Joachim haben sich in Richtung Schuhorthopädie orientiert.

Eigenes Geschäft statt Produktionsgenossenschaft

1950 hatte Günter zunächst eine Lehre beim Vater begonnen und neun Jahre später seinen Meister gemacht. "Mein Schritt in die Selbstständigkeit gestaltete sich nicht unbedingt einfach", erinnert er sich, "der Trend der damaligen Zeit war die PGH, also die Produktionsgenossenschaft des Handwerks. Für mich kam dieser Weg nicht infrage. An meinem Entschluss, ein eigenes Geschäft aufzubauen und zu betreiben, gab es nichts zu rütteln."

Am 1. Januar 1965 eröffnete er seinen Handwerksbetrieb. Arbeit gab es genug, nur sei oft das Material knapp gewesen. Immerhin bis 1990 beschäftigte der Meister noch einen Gesellen. Finanzieller Fahrplan fürs Geschäft war zu DDR-Zeiten unter anderem die "Regelleistungspreisliste für Schuhreparaturen im Kreis Wanzleben" von 1970. Darin enthalten: der Akkordgrundlohn für Lohngruppe V zu 1,31 Mark (2,2 Pfennig pro Minute). "Mit meinem Gesellen Willi Müller reparierte ich unter diesen Bedingungen bis zu 400 Paar Schuhe in der Woche", erzählt Jung.

Neue Anforderungen waren dann mit der Wende auf ihn zugekommen. "Es gab plötzlich Material in Hülle und Fülle, dafür ging aber die Zahl der Kundschaft zurück, man kaufte lieber neue Schuhe." Jung zog der Miete wegen in eine kleinere Werkstatt, zusätzlich übernahm er einen Schlüsseldienst. Im April 2009 ehrte ihn die Handwerkskammer Magdeburg mit dem goldenen Meisterbrief.

Während er so zurückdenkt, sitzt Günter Jung an einer gut 80 Jahre alten Singer-Nähmaschine, mit der schon sein Großvater gearbeitet hatte. Noch älter ist die Presse, mit deren Hilfe neue Sohlen unter den Schuh geklebt werden. "Alle Maschinen sind jetzt Schrott", stellt er ein wenig wehmütig fest, "nur die Singer werde ich als Andenken behalten." Ebenso die zahlreichen Urkunden, die an der Werkstattwand auf seine handwerklichen Leistungen hinwiesen. In Seehausen will Jung die nun gewonnene Freizeit mit seiner Frau und im geliebten Kleingarten verbringen.

Günter Jung, heute schütteres weißes Haar, hat auch unter Bedingungen der Marktwirtschaft bestanden. Darauf ist er stolz. Sein treuer Kundenkreis schätzte die ausgezeichnete handwerkliche Arbeit. Und vielen geht es so wie dem Mann mit dem Gurt - sie sind traurig.