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  7. Salzwedelerin: "Sie gehörte zu unserer Klasse, wie alle anderen Mädchen auch"

Die jüdische Familie Bacharach emigierte während der NS-Zeit nach Palästina / Helga Weyhe erinnert sich an ihre Jugend mit Tochter Esther Salzwedelerin: "Sie gehörte zu unserer Klasse, wie alle anderen Mädchen auch"

27.01.2014, 01:38

Salzwedel (mm) l "Die Juden sind unser Unglück", propagierte Reichstagsmitglied Heinrich von Treitschke bereits im Jahr 1879. Das nationalsozialistische Hetzblatt "Der Stürmer" nahm diesen Satz nach der Machtübernahme begeistert auf und machte ihn zu seinem persönlichen Schlagwort. Aber es gab auch jede Menge Menschen in dieser Zeit, die diesen Satz verneinten. Helga Weyhe, deren beste Freundin Esther Bacharach Jüdin war, machte sich als Kind jedenfalls keine Gedanken darüber, wie sie im Gespräch mit der Volksstimme verriet.

Gemeinsamer Schulweg von der Burgstraße bis zum Lyzeum

"Esthers Eltern wohnten in der Burgstraße. Da führte mein Schulweg zum Lyzeum dran vorbei. Also gingen wir einen Teil des Schulweges gemeinsam", erzählt Helga Weyhe. So wurden aus Esther Bacharach und Helga Weyhe Freundinnen. Sie feierten Geburtstage im Garten hinter dem Haus des Bankiers Bacharach, die "immer wunderschön waren", weiß Helga Weyhe bis heute. Die Idylle nahm 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein jähes Ende. In Ingo Köhlers "Die Arisierung der Privatbanken im Dritten Reich" findet sich der Hinweis, dass Vater Hermann Bacharach 1934 "von mehreren NS-Parteigängern entführt und körperlich misshandelt" worden ist. Außerdem kam es, so schreibt Köhler weiter, auch gegenüber Angestellten von Hermann Bacharach zu Ausschreitungen.

Die Bacharachs entschlossen sich zur Flucht. Hermann, seine Ehefrau Bertha, geborene Neustadt, die ältere Tochter Ruth und Esther fanden in Palästina ein neues Zuhause, wo Vater Bacharach eine Gärtnerei in Ramat Gan, Tel Aviv, eröffnete. "Esther kam eines Tages einfach nicht mehr zur Schule", erzählt Helga Weyhe. Ihre Freundin hätte vorher auch kein Wort über eine eventuelle Abreise verloren. Kinder hätten in dieser Zeit allerdings nicht viel gefragt, meint Weyhe weiter. Sie sei sich aber sicher, dass ihre Eltern "irgendwas gewusst haben". Dabei habe die Religionszugehörigkeit keine Rolle zwischen den Kindern gespielt.

Kein Problem, dass Esther Jüdin gewesen ist

Esther sei die einzige jüdische Schülerin in ihrer Klasse gewesen. Aber es habe keinerlei Problem in der Schule gegeben. Helga Weyhe: "Esther gehörte zu unserer Klasse, wie alle anderen Mädchen auch." Der einzige Unterschied zu den anderen Kindern sei gewesen, dass Esther "den Religionsunterricht nicht besucht hat und auch nicht im BDM war (Anm: Bund Deutscher Mädel, die NS-Organisation für Mädchen)", berichtet die Buchhändlerin.

In den 1990er Jahren hätten sich die beiden Freundinnen wiedergefunden. Esther sei bei ihrem Besuch in Deutschland besonders wichtig gewesen, dem jüdischen Friedhof der Stadt einen Besuch abzustatten, da ihre Großeltern dort lägen, erzählt Helga Weyhe. Sie selbst habe die Bacharachs in Ramat Gan in ihrer Gärtnerei besucht.

Welche seltsamen Wege das Schicksal aber manchmal nehmen kann, weiß Helga Weyhe nur zu gut. "Als einmal ein Journalist, der lange in Israel gelebt hat, zu einer Lesung hier war, habe ich ihm von Esther und ihrer Familie erzählt. Daraufhin meinte er nur, in deren Gärtnerei hätte er immer seine Blumen gekauft", erzählt Helga Weyhe lächelnd. Bis heute telefonieren die beiden Frauen regelmäßig miteinander. "Dann sprechen wir auch über die Schulzeit", erinnert sich Helga Weyhe. Esther ist am 2. Januar 91 Jahre alt geworden. "Ich rufe meist immer einige Tage später an, weil die Geburtstagskinder meist so viele Gäste haben, dass übermäßige Anrufe da nur stören", meint Helga Weyhe. Die Gärtnerei von Esthers Eltern habe bis vor einigen Jahren noch existiert. Hermann Bacharach starb 1980, die Gärtnerei wurde von Esther und ihrem Sohn weitergeführt.

Trotz des hohen Alters noch unglaublich regsam

Esther selbst ist, wie Weyhe erzählt, "geistig noch unglaublich regsam". Sie lebe zwar in einem Seniorenheim, besuche aber regelmäßig Vorträge beispielsweise an der Universität. Die Initiative Stolpersteine findet Helga Weyhe richtig. Aber sie weiß auch: "Wir selbst, nicht die anderen, sollten zusehen, dass die Erinnerung an die Menschen erhalten bleibt." Denn wer mit einem Finger auf die Anderen zeige, zeige immer auch mit drei Fingern auf sich selbst, sagt sie mit besonderem Nachdruck.